«Ramesh, wieso brauchst du Gott so fest?»
«Inge, wieso hasst du Gott so fest?»
Der Satz sass und er sitzt noch immer tief in mir drin. Ja, ich hasse ihn – ich hasse seinen Namen, weil in seinem Namen viel Unheil angerichtet worden ist. Ja, ich hasse ihn, weil er uns über Jahrhunderte daran gehindert hat, menschlich zu denken, zu fühlen und zu handeln. Ich habe ein Hühnchen zu rupfen mit diesem Gott – Ich! Ich bin es, die sich für den Menschen auf der Strasse, für den Menschen, der sich fürchtet und zittert, für den Menschen, der proklamiert und reklamiert, für den Menschen, der sich freut, lacht und liebt, entscheidet. Ich interessiere mich für das Elend, den Schmutz und den Gestank der Welt. Ihre Sehnsüchte, Lüste und Leidenschaften gehen Mich was an – und Ich schaue ihnen in die Augen. Mit hohlen Metaphern wie Gott und das Absolute kann ich mich nicht abspeisen lassen!
In Rameshs Wohnzimmer war es still geworden, ich hörte nur noch in mir mein «Glaubensbekenntnis an den Menschen» rumoren, und dann vernahm ich wieder Rameshs Stimme.
«Gott ist für mich nur ein Konzept, das ich verwende, um es den Menschen verständlich zu machen, wie ich zu meinem inneren Frieden gekommen bin. Gott ist ein Konzept. Wirf es weg, wenn es für dich nicht nützlich ist!» (Dabei lachte Ramesh herzhaft.) Es geht in unserem Leben letztlich darum, dass wir den Bewusstseinszustand, den wir hier in Indien «shanti» (peace of mind) nennen, in uns spüren. Dafür akzeptiere ich alles: Für den Mechanismus des täglichen Lebens besitze ich meinen total freien Willen, aber er ist nutzlos. Weil das, was wirklich geschieht, nicht in meiner Kontrolle liegt. Es ist Gottes Wille oder das kosmische Gesetz.»
Ich musste nun selber laut lachen – und fand es dann gleichzeitig komisch, dass ich noch vor wenigen Sekunden wie ein brodelnder Kochtopf dagesessen hatte. Gott ist ja für Ramesh nur ein Konzept! Was rege ich mich überhaupt so auf?
Trotzdem, das Problem ist noch nicht zu Ende gedacht. Wenn ein Mensch irgendwo eine Bombe zündet, zum Beispiel, weil er der Meinung ist, es leben eh zu viele Menschen auf Erden – das kann doch nicht Gottes Wille sein?
«Warum nicht? Gott hat eine Mutter Teresa erschaffen, aber auch einen Hitler und viele andere Psychopathen. Warum ist das so? Weil wir in einer dualen Welt leben: Das Gute gibt es nicht ohne das Böse. Und warum das Gottes Wille ist? Das kann ich niemals begreifen.»
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