... und deshalb bezweifele ich, dass ich den großen gesellschaftlichen Umbruch noch erleben werde:
"Unsere narzisstisch begründete Demokratie ist nicht mehr das "beste aller Systeme", weil die notwendigen Mehrheiten nicht auf dem Weg emotional getragener, rationaler Entscheidungen zustande kommen, sondern die narzisstische Abwehr im Größenselbst wie im Größenklein in der politischen Arena das Sagen hat.
Wird in den Nachrichten etwa gemeldet, dass Präsident Sarkozy und Kanzlerin Merkel sich treffen, um über die Euro-Krise zu beraten, dann klingt das so, als seien diese beiden Menschen in der Lage, wirklich zu verstehen, was zu tun ist: Alle warten gespannt auf die Pressekonferenz. Man darf ganz sicher sein, dass es in derlei Gesprächen letztlich nur darum geht, wie man das Sachproblem gestaltet und vor allem vermittelt, um an der Macht zu bleiben und die nächsten Wahlen zu gewinnen. Wir haben es weder mit Übermenschen noch mit so großartigem Sachverstand zu tun, wie wir es zu unserer narzisstischen Beruhigung gerne glauben möchten. Ein ehrliches Statement könnte lauten: Wir wissen nicht weiter, wir brauchen Rat, wie die Fehlentwicklung zu beenden wäre. Dazu müssten Sachkompetenzen versammelt und Konsenslösungen für die notwendigen Entscheidungen gefunden werden; es müssten deren Folgen, die mit Belastungen für den Einzelnen verbunden sind, und die daraus resultierenden Lebensveränderungen erklärt und breit diskutiert werden, so dass sie allen verständlich und von den meisten mitgetragen werden. Es ginge also nicht mehr um einen Kampf um Mehrheiten, sondern um einen gerechten Konsens samt der damit verbundenen Mühen. Das wäre in der Tat eine andere Gesellschaft, deren Politik nicht mehr narzissmuspflichtig wäre.
Nur die Überwindung der Motive, aus denen heraus wir der narzisstischen Regulation bedürfen, vermag eine menschliche und gerechte Zukunft zu sichern. Im Moment jedoch liegt die Zukunft der Welt in den Händen von Spielern und Zockern, die profitgierig und völlig unempathisch darum bemüht sind, ihre erhebliche Störung im Glücksspiel und durch Wetten zu regulieren. Die narzisstische Not hat ein Ausmaß des Ausagierens angenommen, das die Welt ins Chaos stürzen kann. Um dieser gefährlichen und unkontrollierbaren Entwicklung Einhalt zu gebieten, wäre insbesondere seitens der zuständigen Amtsträger statt narzisstischer Abwehr die Erkenntnis prinzipieller Fehlentwicklungen notwendig, verbunden mit der Übernahme von Verantwortung für diese Fehlentwicklungen. Erforderlich wären die Einsicht in die begrenzte eigene Kompetenz und das ehrliche Eingeständnis prinzipieller Ratlosigkeit und Hilflosigkeit, die komplexe Krise verstehen und "managen" zu können.
Es wären mutige Visionen und Experimente gefordert, um neue Gesellschaftsstrukturen zu finden und zu gestalten. Das allein würde schon die mühevoll aufgebaute narzisstische Kompensation erschüttern. Dazu kämen feindselige kritik sowie die berechtigte Angst, das Wählermandat zu verlieren samt aller damit verbundenen finanziellen Entschädigungen und sozialen Privilegien. Eine Ursachenbekämpfung - wie die Kanzlerin sie immer wieder behauptet - ist praktisch undenkbar, sie käme einer Selbstabwahl gleich.
Das kapitalistische System wird von narzisstischen Kompensationsprozessen beherrscht und müsste tatsächlich verändert werden; die in die Fehlentwicklung involvierten Regierungen sind nicht mehr imstande, das zu leisten. Aber auch die Menschen gehen bislang meistens nur auf die Straße, wenn es um ihr Einkommen geht, nicht aber, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Selbst die Greenpeace-, Attac- und Occupy-Proteste verebben bislang noch und werden wohl erst dann Massenzulauf bekommen und politische Wirkung zeigen, wenn etwa die Inflation den meisten Menschen das Geld nimmt, das sie zur süchtigen Kompensation ihrer narzisstischen Defizite so dringend brauchen. Einsicht und Vernunft allein aktivieren keine Massenbewegung."
Maaz: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm. S. 196-197
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*edit*
Und hier ein tagesaktuelles Beispiel aus der Politik:
Grünen-Politiker Palmer: Überflieger mit Demutsdefizit
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Etwas später im Buch schreibt er von einer "Vision einer demokratischen Revolution", da bin ich aber noch nicht.
Bislang hat Maaz durchaus einige Lösungsansätze aufgezeigt, die ich jedoch für schwierig bis gar nicht durchführbar halte. Voraussetzung ist
der Wille und die Fähigkeit zur Einsicht jedes Einzelnen, verbunden mit anschließender emotionaler Aufarbeitung. Dass so etwas auf persönlicher Ebene
gesellschaftsweit möglich sein soll, übersteigt schlicht meine Vorstellungskraft. Das Thema ist so komplex und ich habe mittlerweile eine Ahnung davon,
wie umfassend es ist, dass ich wenig Hoffnung habe.
Ein anderer, interessanter Ansatz bilden "Elternschulen", "um die narzisstische Schädigung von Kindern auf ein möglichst niedriges Niveau zu senken." (S. 184). Ausführungen dazu gibt es u.a. hier:
"Die Realität sieht leider anders aus. Die Verleugnung, Verzerrung und Beschönigung innerseelischer Zustände ist soziale Gepflogenheit und bildet die übliche Erziehungsnorm. Wir wissen, dass die Lüge die Basis für sozialen Frieden ist, aber das ist und bleibt ein sehr labiler Frieden. Jedes Stück Wahrheit bedeutet Kränkung und Erschütterung der Beziehung, führt aber in aller Regel lediglich zu neuen Anstrengungen in Sachen Wahrheitskosmetik. Trotzdem: In der Kinderbetreuung bleiben Wahrheit und Ehrlichkeit entscheidend für die gute seelische Entwicklung, weil das Kind weniger auf die Worte als auf die Beziehung reagiert. Am Anfang des Lebens, wenn die Sprachsymbolik noch nicht ausgebildet ist, ist die Beziehungsqualität für das Kind die prägende Orientierung: Tonfall, Mimik, Gestik, emotionale Befindlichkeit der Bezugsperson, die Art, wie das Kind angeblickt, berührt und gehalten wird, vermitteln ihm Zuneigung, Verständnis oder Ablehnung und Unverständnis. Das Kind spürt, ob es geliebt wird oder nicht. (S. 184)"
Und es gibt unendlich viele Möglichkeiten, ein Kind narzisstisch zu ge-/missbrauchen, beginnend mit der Schwangerschaft...