Liebe Community,
auch wenn es mir mittlerweile so erscheint, als missbrauche ich diesen Thread lediglich als Sammlung meiner Texte, so möchte ich Euch meinen neuesten Text nicht vorenthalten. Vor allem weil er sehr stark von den Diskussionen aus diesem Forum inspiriert wurde.
„Ein Auszug aus dem Leben zugunsten des Einzugs in die Fantasie. Gedanken, die zu Papier gebracht, besitzen die Fähigkeit mich zu beflügeln, mich sehr weit weg zu tragen; über das Gewohnheitsgebilde hinaus, in die Ferne einer strukturbefreiten Welt.
Mich umgibt das alltägliche Einerlei. Wie in einem Laufrad gefangen, hetze ich der Ermüdung entgegen, bearbeite Themen und Aufgaben, die von der Zeit in Beschlag genommen werden und die in ihrer Präsenz eine viel zu große Wichtigkeit erhalten. Doch was bleibt, nachdem sich das Rad Tag für Tag weiterdreht, nachdem man all seine Energie in diesem endlosen Lebenslauf verliert?
Nur selten ist es mehr als ein Fußabdruck – eine Spur im Sand, die bald schon hinweg gespült wird durch die Wellen der Vergänglichkeit. Doch worin liegt das Ziel des Lebens, wenn Ereignisse und Abläufe einer immerwährenden Wiederholung obliegen, wenn auch die rote Linie im Laufe des Lebens irgendwann ihren Anfang wiederfindet?
Gerade in den letzten Tagen wird mir der Kontrast in meinem Leben sehr stark bewusst. Auf der äußeren Seite – in meinem Beruf – entwickele ich Entscheidungsgrundlagen und treffe finanzielle Abwägungen; Projektcontrolling, Budgetplanung und Abrechnungsmodalitäten drängen sich in den Fokus meiner Aufmerksamkeit, versuchen gar in mich einzudringen und von mir Besitz zu ergreifen. Sie versuchen meinen inneren Antrieb ab- und umzulenken, um mich voll und ganz dieser systematischen Struktur unterzuordnen. Ein maschineller Ablauf ausgeführt von Menschenhand. Ein komplexes Programm eingenistet im menschlichen Geist.
Auf der inneren Seite – in meiner Selbst – türmen sich gegenteilige Bilder auf: Bilder der Freiheit und Ästhetik, der Reinheit und Natürlichkeit, der Erkenntnis und Erfahrung. Ich sehe die Natur in ihrer vollkommenen Form; erblicke den Sonnenaufgang in einer Schönheit, die von keinem Dichter und Poeten je adäquat in Worte gebannt werden könnte; was bleibt, ist immer nur eine Abstraktion der Welt, die den wahren Zauber nicht widerzuspiegeln vermag. Neben dem Sonnenaufgang tummeln und schlängeln sich Krähen umeinander. Spielerisch versuchen sie sich zu necken und zu fangen und offenbaren dabei die authentische Seite des Lebens. Gleichsam sehe und erlebe ich in mir philosophische Gedankenstränge, die in ihrer kristallklaren Brillanz, die uns bekannte Welt aus den Fugen heben könnten und Konzepte für Ideen liefert, die eine gänzlich neue Weltanschauung zur Folge haben. Und dieses passive Netz aus Anschauung, Verstehen und Deutung umspannt die Welt mit meinen Gedanken. Plötzlich wird mir der verheerende Kontrast bewusst, der sich allmorgendlich in mein Bewusstsein drängt, doch mich dauerhaft unterschwellig durch mein Leben begleitet – der Kampf um die Zeit und Muße, der Streit zwischen gesellschaftlicher Verpflichtung und individueller Befreiung. In den besonnen Minuten eines jeden Morgens blühe ich auf. Ich stehe sodann am Bahngleis und lasse nicht selten ein oder zwei Bahnen an mir vorbeifahren, weil ich den Zauber des Augenblicks nicht enden, sondern noch tiefer in mich einsaugen möchte. Doch kaum endet der morgendliche Weg, ertönt der Ruf der Arbeit. Und ganz unmerklich verschwinden diese schönen Gedanken und Gefühle, verabschieden sich bis zum nächsten Tage und machen den tausend kleinen und großen Herausforderungen einer von Menschen erschaffenen und zum Erhalt verdammten Welt Platz.
Dabei kommt es mir immer so vor, als läge in eben jenen Erkenntnissen des Morgens die Fähigkeit begraben, das alltägliche Einerlei zu unterwandern; als läge darin die Macht verborgen, das dem Selbstzweck dienende System in sich aufzulösen. Die Arbeit, wie wir sie bestreiten, gleicht einem Spiel mit all seinen Facetten: die Zufälligkeit des Schicksals, die strategischen Entscheidungen zur Erreichung eines Ziels, die vielen Mit- und Gegenspieler, die Stärkeren und Schwächeren, die Gewinner und Verlierer. Manchmal glaube ich, der Mensch habe nur vergessen, dass dies alles immer noch einem Spiel entspricht, komplexer und weitreichender als jede Schachpartie, zufälliger und unberechenbarer als das einfache Würfelspiel, im Kern jedoch immer den aufgestellten Spielregeln genügend, die zur Erreichung der gesetzmäßigen Ordnung vonnöten sind.
Doch wie schaffen es diese Schlüsselgedanken zur Herrschaft über dieses Spiel? Der von mir beschriebene Morgen verleiht mir die Weitsicht, die Strukturen und Handlungsabläufe zu durchblicken; in dem Moment kommen mir gar viele der Menschen wie Marionetten einer höheren Ordnung vor. Doch kaum integriert mich das Spiel als einen seiner Mitspielern, verliere ich den Blick von oben, die Distanz zum Geschehen; sodann bin ich selbst kaum mehr als eine Spielfigur auf diesem Brett des Lebens.
Doch in mir tut sich Hoffnung breit. Eine neue philosophische Besonnenheit ist in mir eingetreten und beflügelt mich durch einen andauernden Fluss der Erkenntnis. Vor wenigen Wochen habe ich mir die zuletzt erschienene
GEOkompakt-Zeitschrift gekauft. Dabei geht es um das Thema „Unsere Sinne“. Und durch die ausführliche Erläuterung der Wahrnehmung historischer Lebewesen, tierischen und pflanzlichen Lebens sowie menschlicher Kinder und Babys wurde mir bewusst, wie variabel unsere Welt doch ist; vielmehr noch: dass unsere Welt nur eine von vielen Erscheinungen ist, die nur aus dem Grund für uns solche objektive Gültigkeit besitzt, weil die meisten Menschen in ihrer Wahrnehmung übereinstimmen und dies mit Gleichgesinnten kommunizieren können. Aber sich vorzustellen, wie die Erlebniswelt einer Fledermaus aussieht, die sich nur durch akustische Signale in ihrer Umgebung orientiert oder gar den Versuch zu wagen, für den Menschen unbekannte Sinnesorgane anzunehmen (wie z. B. die Orientierung auf Grundlage des Erdmagnetismus, die Sichtung von Infrarotstrahlen), bringt einen unweigerlich an den Punkt, die objektive Gültigkeit dessen, was wir wahrnehmen, infrage zu stellen.
Von dieser sehr interessanten und unterhaltsamen Literatur bin ich einen Schritt weitergegangen und beschäftige mich seit einigen Wochen mit dem zunächst trocken erscheinenden Thema: radikaler Konstruktivismus. Diese philosophische Annahme geht noch einen Schritt weiter: sie überwindet die Variable der Sinnesleistungen und Wahrnehmungen, indem sie gar das gesamte Wissen, welches uns zu eigen ist, infrage stellt. Denn auch wenn die Welt uns gegenwärtig schlüssig erscheint und unser Wissen um die Welt gewissermaßen Ergebnis und Erfolg jahrhundertelanger Forschungen ist, so ist die Welt in letzter Konsequenz eben nur ein Weltbild, welches dem Menschen kohärent, also zusammenhängend und in sich stimmig erscheint. Die physikalischen Gesetze scheinen allgemeine Gültigkeit zu haben, denn sie lassen uns die Welt vorhersagen und Phänomene daraus ableiten und berechnen. Diese Gesetzmäßigkeiten dienen unserem Zweck und stehen in unserem Nutzen. Aber sind sie unumstößlich und gänzlich grundsätzlicher Natur? Belehrt uns die moderne Forschung nicht immer wieder eines Besseren?
Gibt es ein grundlegenderes Gesetz als das Gesetz der Kausalität: das alles im Universum eine Ursache hat? Wenn man weiter gräbt und die volle Bandbreite der Phänomene betrachtet, stößt man auf das recht neue Gebiet der Quantenphysik: diese offenbart uns die Existenz von Quantenteilchen, die scheinbar ohne eine Ursache unvorhersehbar auftauchen können. Auch das Phänomen Zeit wird regelmäßig aus den Fugen geworfen; denn Zeit vergeht, nach den Gesetzen der Physik, gleichmäßig, in einer regelmäßigen Abfolge von Zeitintervallen. Doch genau diesen widerspricht die psychologische Zeit. Ihre Eigentümlichkeit wird uns vor allem nachts bewusst, wenn wir, uns im Schlafe befindend, unvorstellbare Zeitsprünge machen, ohne dass wir von der verlorenen Zeit etwas wissen. Sicherlich kann man annehmen, dass das Weltbild temporär Lücken aufweist, welche aber durch neuere Forschungen und Erkenntnisse wieder berichtigt werden und vom Menschen auf diese Weise irgendwann ein lückenloses Weltbild mit objektiven Charakter erklären lässt. Dabei sollte man aber nicht außer Acht lassen, dass das Gehirn so aufgebaut ist, dass Lücken in den Erkenntnissen zwangsweise gefüllt werden müssen, damit das Gesamtbild schlüssig bleibt – somit also durchaus Wahrheiten für gegeben hingenommen werden, die nur noch nicht falsifiziert werden konnten, auf denen dann aber wiederum neue Wahrheiten begründet werden können.
Dem Menschen fällt es ausgesprochen schwer zu akzeptieren, dass eine Frage ohne Antwort bleibt, eine Unkenntnis nicht sogleich durch Erklärungen des Verstandes beseitigt werden können – er ist stets bestrebt, ein vollständiges Weltbild zu kreieren. Und das nicht nur im Erwachsenenalter: denn bereits Kleinkinder meinen, mit ihren naiven Vorstellungen von der Welt recht zu behalten. Oft argumentieren sie sogar vehement für einen Irrsinn, der sich als Produkt ihrer Vorstellung auftut, der erwachsenen Zuhörern aber nicht mehr als ein Schmunzeln auf die Lippen zaubert.
Wenn man sich nun dieser Tatsache, diesem Zwang des Gehirns zu einem lückenlosen Weltbild, bewusst wird, sich dazu mit ausreichender Offenheit und Skepsis den in Stein gemeißelten Erkenntnissen und Wahrheiten der Menschheitsgeschichte annimmt, dann kann man den Faden tatsächlichen immer weiter spinnen und irgendwann zur Auffassung kommen, dass alles Wissen von Menschen konstruiert wird, dass die Welt viel mehr in mir existiert, als ich in der Welt existiere – dass Objektivität lediglich ein Gemeinschaftsgut ist, mitnichten jedoch einen Anspruch auf Wahrheit und Eigenständigkeit erheben kann. Damit möchte ich die Existenz der Welt um mich herum nicht infrage stellen. Ich sage jedoch, dass unsere Auffassung von der Welt eben genau das ist: unsere Auffassung. Und über unseren Tellerrand hinaus können wir nur schwerlich blicken; und die künstlichen Gerätschaften, die unser Wahrnehmungsspektrum erweitert haben, führten so manches Mal zu Entdeckungen, die zum gegenwärtigen Stand mit der allgemeinen Logik nicht kompatibel waren.
Wir leben in und ordnen uns durch die Bilder, die wir schaffen, die wir miteinander synchronisieren. Diese Bilder sind im Einzelnen oft individuell, in Gesamtheit jedoch für die meisten Menschen mehr oder minder stimmig. Die Bilder, die wir von der Welt konstruiert haben, beschreiben unsere Welt nicht nur - formen demnach nicht nur unser Wissen -, sondern beeinflussen gleichsam auch unseren Geist. Wir bauen diese Bilder auf und im Gegenzug wirken sie auf uns zurück.
Ich nenne mal ein einfaches und anschauliches Beispiel: wenn wir von einer bestimmten Weisheit oder Wahrheit überzeugt sind, facht dies eine Begeisterung in uns an und versorgt uns mit ausreichender Motivation, in diesem Themenbereich die Tiefe zu erforschen. Doch wenn wir bereits eine Überzeugung haben, beeinflusst diese Überzeugung wiederum die Selektion der Informationen, die von uns aufgenommen, als wichtig erachtet, verarbeitet und anschließend integriert werden. Wir integrieren leichter, was bereits zur vorherrschenden Meinung passte. Sicherlich haben es die meisten Menschen schon einmal erlebt, dass sie Feuer und Flamme für ein Thema waren, aber im Laufe der ersten Seiten eines Buches das Gefühl entwickelt haben, dass diese Beschreibung mit der ursprünglichen Überzeugung im Widerspruch steht; dass womöglich gar das Gegenteil behauptet wird, von dem, was man angenommen hat. Und in dem Moment tut sich unser Gefühl – mit direkter Auswirkung auf die Motivation – wesentlich schwerer, den Text weiterzulesen und den Widerspruch zu überbrücken, als wenn durch die Information das Bild unserer Überzeugung ergänzt würde. Überzeugungen, die wir haben, werden von uns unbewusst untermauert – wir sind also bereits vorbelastet und bauen uns auf diese Art und Weise ein immer größer werdendes Bild von ein und derselben, bereits anfänglich vorherrschenden, Überzeugung auf. Ich bin mir zwar bewusst darüber, dass sich Meinungen ändern können. Die geänderte Meinung muss erfahrungsgemäß jedoch zumeist ein hohes intellektuelles oder emotionales Gewicht haben, bevor sie das ursprüngliche Bild in unserem Kopf ins Wanken bringt.
Auf diese Weise kreieren wir sozusagen unser Bild von der Welt, untermauern es fortlaufend; dieses Bild beeinflusst aber wiederum unsere Motivation, unsere Reaktion, unsere Sympathien und Antipathien, unsere Gefühle und Gedanken. Und die meisten dieser sich in uns abspielenden Erfahrungen können von uns nicht bewusst mit den Bildern in Verbindung gebracht werden. Sie sind indirekte Folgen unserer Lebenseinstellung. So formt beispielsweise Religiosität unseren Charakter. Der Glaube an Gott und die 10 Gebote mündet in der Motivation, auf dem rechten Weg zu bleiben. Eine pessimistische Weltanschauung hingegen kann durchaus zu erhöhter Risikobereitschaft bis hin zu Leichtsinn und Suizidalität führen (z. B. infolge einer nihilistischen Weltsicht).
Wenn ich mir nun überlege, dass es womöglich gar kein objektives Wissen gibt, unsere Welt nur einem unglaublich stark geprägten Meinungsbild entspricht, mir gleichzeitig aber überlege, welche Auswirkungen diese Bilder auf meine Persönlichkeit haben, dann muss ich mich ernsthaft fragen, ob das Streben nach Wahrheit überhaupt gerechtfertigt ist? Wäre dann nicht die Wirkung eines Weltbildes viel entscheidender, als die vermeintliche objektive Richtigkeit? Spielt es eine Rolle, ob es Gott gibt oder nicht – ob diese Existenz im Zusammenhang oder im Widerspruch mit dem derzeit gültigen Erkenntnisstand steht? Was spielt das für eine Rolle? Vielmehr interessiert uns doch, wie sich dieser Glaube – dieses Bild – auf den Charakter auswirkt.
Vor kurzem habe ich in
diesem Thread die für mich grundlegende Frage aufgeworfen, ob nun die materialistische oder die idealistische Weltauffassung ihre Daseinsberechtigung hat, ergo: ob es übersinnliche Phänomene gibt oder nicht. Meine Meinung war diesbezüglich ständigen Wandlungen unterworfen – ich las Bücher, die belegen konnten, dass es derartige Phänomene (wie Astralreisen, Geistwesen, Spüren einer fremden Identität oder Entität) eindeutig gibt. Beispiele dafür waren in Hülle und Fülle beschrieben worden. Andererseits las ich einige Zeit davor ein sehr gutes Buch über den Schamanismus, in dem die Autoren sich vorurteilsfrei dem höheren Geist des Schamanismus zugewandt haben. Schlussendlich wurde dieser Geist lediglich als sehr wirksamer Placebo-Effekt enttarnt. Was ist nun zu glauben – was ist richtig, was falsch? Insbesondere auch durch eure Feedbacks habe ich nun erkannt, dass letztlich die Frage nach Richtig oder Falsch – und damit auch die Suche nach der Wahrheit – bedeutungslos ist. Meine jeweilige Überzeugung prägt mich und meinen Charakter. Was wirklich hinter der Welt steckt wird vermutlich niemals zur Gänze erklärt werden können oder aber es wird wieder nur ein Konstrukt der von Menschen geschaffenen Wirklichkeit sein.
Die Welt existiert in meinem Geist. Das, was ich wahrnehme, was ich spüre, was ich von der Außenwelt erlebe, kann erst durch die Verarbeitung in meinem Gehirn real werden; erst die Synapsen meines Gehirns geben dem Sein ihren Sinn, erzeugen auf Basis von Informationen ein Bild der Außenwelt. Ändern sich die Verarbeitungsmechanismen – und sei es auch aufgrund von Defekten in der Neurophysiologie – so verändert sich auch das Bild von der Welt, ihre Bedeutung und demzufolge ihre Wirkung.
Und genau darin liegt für mich der Schlüssel zur Auflösung dieser konfliktreichen Strukturen. Ich lebe in einer Welt, die meinem Idealbild vollkommen widerspricht; und genau in diesem Widerspruch stecken all die Missempfindungen, die Leidensstränge, die Sehnsüchte und Hoffnungen. Leid entsteht durch einen Konflikt – oder sinnbildlich gesprochen: wenn ich mich nicht vom Fluss des Lebens tragen lasse, sondern eine andere Richtung anvisiere, wenn ich also Kraft aufwenden muss und massenhaft Energie verliere um gegen den natürlichen Strom des Lebens dorthin zu gelangen. Wenn ich demzufolge gegen den Strom schwimme, verliere ich Energie, die ansonsten anders hätte nutzbar gemacht werden können – ich blockiere mich demnach selbst. In meinem Umfeld sehe ich Menschen, die beruflich gesehen ein ähnliches Leben führen, damit aber augenscheinlich zufriedener sind und besser verfahren als ich es kann. In diesen Menschen entspricht das Idealbild ihrer Vorstellung von den Strukturen der Welt - und damit auch den tatsächlichen Begebenheiten. Der Strom des Flusses führt sie genau zu dem gewünschten Ziel: ob nun Karriere oder Familie. Hierbei ist es unerheblich, ob das Idealbild aus den tatsächlichen Begebenheiten abgeleitet wurde oder aber die Begebenheiten des Lebens auf Grundlage des eigenen Idealbildes verändert wurden (z.B. durch Jobwechsel, Umzug).
Wichtig ist, dass das reale Leben weitgehend mit der Vorstellung eines guten, gesunden und sinnvollen Lebens im Einklang liegt. Entweder man muss seine Vorstellung von einem guten Leben soweit modifizieren, dass sie zum eigenen Leben passt - muss davon aber überzeugt sein und sich auf kurz oder lang mit dieser Vorstellung identifizieren können –, oder aber man muss sein Leben derart verändern, dass es dem Bild seiner Vorstellung entsprechen kann.
Bedauerlicherweise kann man seine Überzeugungen nicht einfach den Begebenheiten anpassen und gewissermaßen zwischen den Bildern hin und her wechseln: das zeigt schon der berühmt und berüchtigte Placebo-Effekt, der im Moment der Enttarnung seine Wirksamkeit verliert. Zuvor jedoch entspricht er genau dem Bild einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Man glaube an die Wirksamkeit und unter diesen Umständen tritt sie auch ein. Wenn man aber glaubt, den Placebo-Effekt bewusst nutzbar machen zu können, stößt man auf die Unmöglichkeit, sein Bewusstsein austricksten zu können.
Letztlich muss man sich deutlich machen, dass die Fähigkeit zur Heilung in einem selbst steckt und nicht mit einem Trick reproduzierbar ist; es ist vielmehr der Glaube, der Unmögliches möglich werden lässt und nicht die Täuschung, die einen zum Glauben bewegt. Wenn ein Placebo-Effekt den Menschen heilen kann, dann gibt es auch den natürlichen Weg dorthin: der Weg des Glaubens, der inneren Überzeugung. Und dieser Weg führt zwangsläufig in und über die eigene Persönlichkeit, mit all den ungelösten Konflikten, verdrängten Problemen und nicht zuletzt mit der Gestalt des Egos, die durch die Gesellschaft aufgebaut wurde, mit der eigenen Identität aber möglicherweise nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Wenn man den Weg über diese Widersprüche und Konflikte wagt, wenn man sich mehr und mehr eingesteht, wer man im Kern eigentlich ist, wenn man sich dessen bewusst wird, welche Bilder einen prägen und wer einem diese Bilder in die Zukunft projiziert, dann kann man auch lernen, das gesamte
Bildungssystem infrage zu stellen oder es zumindest maßgeblich zu beeinflussen.
Denn dass was mit dem Placebo-Effekt erreicht werden kann, funktioniert viel stärker noch mit rein geistiger und emotionaler Zufriedenheit, in der Suche nach einem Lebenssinn, in der Bestätigung für sein Tun und Wirken und in der Ruhe mit sich selbst. Das Bild vor den eigenen Augen muss mit dem Leben vereinbar sein, mit diesem harmonisieren. Man muss sich seiner eigenen Identität bewusst sein und wissen, was man von seinem Leben erwartet. Wenn sich das Leben in die Struktur des radikalen Kapitalismus eingliedert, man dadurch zum Glied in der Kette der Vielen wird, so kann dies für die Lebenszufriedenheit vollkommen ausreichend sein, sofern man es will.
Doch dazu muss man es zunächst einmal wollen. Und genau darin sehe ich ein großes Problem, welches sich viele Menschen aufgebürdet haben: sie wollen – bewusst oder unterbewusst – in Unzufriedenheit verharren, sich über die Welt beschweren. Die Beschwere drückt genau den emotionalen Kern des Wortes aus: man beschwert und belädt sich mit den Problemen der Welt und der Unzufriedenheit in einem selbst. Überall stoßen die Bilder der Ideale an die Bilder der Realität. Und genau in dem daraus erzeugten Leid sehen viele Menschen eine gewisse Sicherheit. „Dem Niedergeschlagenen tut man nicht weh.“ Und: „Der am Boden liegende kann nicht tiefer fallen, kann auch nicht enttäuscht werden.“; sich dem negativen Tal hinzugeben, fällt einfacher als stets und scheinbar nie enden wollend den positiven Berg zu erklimmen. Doch in dieser Negation verfängt man sich, erblickt irgendwann nur noch all jene Aspekte in der Welt, die zu diesem negativen Weltbild passen und es untermauern. Man achtet auf das Leid und fühlt sich darin bestätigt. Man erwartet nichts von der Welt und erhält infolgedessen weniger. Man versumpft in seinen Bildern und Gedanken und steckt irgendwann unvermeidlich in diesen fest. Erst wenn man dieses Weltbild überwunden hat und eine positive Motivation im Leben findet, kann man sich ein Bild von der Welt aufbauen, welches die eigene Existenz und damit die Empfindungen für das Leben positiv prägen. Und da schafft man es mit viel Geschick sich eben jene Welt zu konstruieren, in der man erhält, was man sucht und wonach man sehnt: sei es Ruhe, Abenteuer, Entwicklung oder das Gefühl der wohl bekömmlichen und nicht aufzehrenden Routine.“
Mit besten Grüßen,
Yagé

Die Realität ist Spiegelbild der Seele; wird nun das Innere verzerrt, so verschieben sich auch die Wesenszüge der Wirklichkeit.