Das Ariadnegedicht
1
Du, der Inhalt der innigsten Jahre,
enziangeschmückte Ariadne,
endliche Antwort des Lebens
aus des Herzens beharrlich ganzem Bezirk:
Ach, es bedurfte nach der Unzahl an Stunden
kaum einer Viertelsekunde:
der irrliche Wandel im Dunkel
hellte sich auf beim Klange des traumschweren Tanzes
deiner verborgenen Gesten.
In ihnen lag die goldene Spur,
die Jahrzehnte hindurch immer gesuchte,
und das Wiedersehen weckte sie wieder
im doppelten Herzschlag,
der auch die früheren Tode enthielt.
Da verwandelten sich die dunkelen Lieder,
und die Schmerzen waren schon überspielt,
und die blauende Nacht ahnte den goldenen Tag.
2
Lauschtest du einst der dunkelstimmigen Lockung des Todes −
wie gut, daß du's tatest;
selbst der erste, der odysseїsche Dulder,
wußte vom Tode, daß auch dieser Musik sei:
Betörung zum Untergang
durch den verführenden Sang der Sirenen −
selbst heute noch sind sie die kündende Stimme des Sterbens.
An den Gestaden des Herzens
und an den Ufern der nächtigen Sterne
muß ein Jeglicher einmal verweilen,
daß er das Weinen erlerne,
dieses sprachlose Opfer ans Meer,
auf daß er um das Tödliche wisse.
Wir töten stündlich,
nur um zu leben −
wer aber tötet uns,
um zu sein −
wenn nicht eben dies Leben?
3
Immer ist es die Meerfahrt,
die Bezwingung der nächtigen mondenen Wasser,
die, im Tod von der Seele erlitten,
im Leben der Einzelne wieder
mit seines Herzens innerster Kraft
gültiger noch zu bestehn hat
und wissend manchmal besteht.
Es war ‹‹ein küneginne
gesezzen über sê»,
die der zu nördliche Held
durch die bestandene Meerfahrt erfuhr.
Und es fand der odysseїsche Dulder
am Strande Nausikaa;
es fand Wäinämöinen, der Finne,
am Rande des Nordmeers Annikki;
es fanden die griechischen Helden
Helena wieder in Troja,
und Theseus über die myrtische See hin
Ariadne auf Kreta.
Aus dem Dunkel der Zeiten
und dem der eigensten Seele
spricht in nächtigen Bildern
diese Not der Erfahrung,
daß um das Meer der Seele nur weiß,
wer bis in den Tod sie erfuhr.
Auch der skythische Weise verriet es:
«Es gibt drei Arten von Menschen:
lebende, tote und solche,
welche die Meere befahren.» −
Schluchzt dir die Not durch die Adern,
halt stand,
erfahre die Nacht und das Meer,
erfahre die Seele,
erfahr' Ariadne,
finde im Leben den Tod,
überhöhe sanft und behutsam das doppelte Reich
eher bist du nicht Mensch.
4
Es ist immer die sanftere Stimme,
immer diese leise Erhöhung der geschehenden Dinge,
die uns gültiger anspricht:
ein bloßes Weinen im Stummsein,
da das noch stummere Salz
sich in die Winkel des Mundes vertut:
seltsam,
aus dem Spiegel der Seele
Tropfen des verlorenen Meeres nochmals zu empfangen,
während der Blick sich verschleiert
und monden Erinnern die Adern mühselig durchflutet,
daß selbst das sich seitwärts neigende Haupt
in der unausschluchzbaren Trauer
an die Sichel des Mondes gemahnt.
Aber wie wenig ist dies
Lastet es selbst,
wie leicht doch ist es,
verglichen mit jener salzigen Flut,
aus der sich das kretische Eiland erhob,
wo bei den doppelsichelnen Hörnern des nächtigen Stieres
Mond, Meer und Nacht
die labyrinthische Irrnis erfüllte.
Wäre Ariadne nicht,
keiner entstiege dem Dunkel der Seele.
Verführend führt sie,
und es lichtet sich das Geheime
und führt die Liebenden heim
in das goldene Leben,
weil er das Tödliche gänzlich bestand.
Aber in ihr ward diese Steigerung sichtbar,
in ihr, der Enziangeschmückten,
dank der umfassenden Lauterkeit ihres metallenen Blau:
diese Erhöhung,
daß leben lieben
nicht nur bedeute,
wohl aber werde und sei.
Schon in dem Klange des Wortes ist diese sanfte Erhöhung,
und derart auch wölbt nach einer tiefblauen Mitternacht
über die sternzerpflügte Landschaft des Herzens
sich die dunkele Bläue des Mittags.
5
Aber verfalle nicht dem bildreichen Beispiel;
nimm es beiläufig als Spiel,
nicht weiter als gänzlich verpflichtend
in seiner labyrinthischen Alldeutigkeit.
Entsinne dich stets der tiefen Verwandlung,
und dies so überaus wörtlich,
daß davon den Sinnen nichts mehr verbleibt.
Einstmals war es das weite myrtische Meer −
heute ist es die Träne.
Einstmals war es der mythischen Fülle dunkle und goldne Gestalt −
heute halte dein Herz in die bildlose Liebe.
Einstmals war es ein Tagtraum nächtigen Wunders −
heute sei es dir sanft überhöht ein wacher und ganzer Bezug.
Einstmals entfaltete sich naturhaft das dreifache Bild Ariadnes
Mutter, Schwester und schließlich Geliebte −
heute im goldenen Tage zerschmolz das mondene Dreibild in die
gültige Wirklichkeit Mensch.
Jüngling und Mädchen,
Mann oder Frau
sind immer Getriebene,
dahin und dorthin,
überschicksalt und unfrei;
erst zum Menschsein erwacht
sind sie befreit,
und der Freieste geht
stets den Weg durch den Freier,
und die Umfreite wandelt sich stets
in die Befreite:
doch habe acht,
der du das zweideutige Nein der Nacht
schon getilgt,
daß kein Fordern, kein Herrschen mehr sei,
kein Zwang, kein Besitz,
aber das gebende Lassen:
in ihm verblassen
die urgründigen Bilder,
und es ersteht die ganze und heile Gestalt,
die sich dir eint.
Fall' nicht zurück in Bild oder Traum,
denen du schmerzhaft entstiegst,
und lerne es täglich von neuem:
die, von denen du oder ich sagst,
sie seien die Meinen,
wisse, daß sie nur die Gemeinten
einer innersten Strömung sind,
jene, welche ein lauterer Sinn
unserem Herzen eingab,
daß wir besitzlos sie meinen.
Rühr nicht an sie mit Taten,
gewähre der Hand keine Handlung,
aber steigere mild das Geschehen −
verwandle das Rot des entwirrenden Fadens
bedächtig und stetig
in das ungreifbare Gold der empfangenen Strömung:
sichtbarer stets durchwirke es Leben und Tod
und binde die einstmalige Rückkehr
sicherer noch in die dauernde Drift dem zugewiesenen Herz.
Darin, daß es geschieht,
und nicht daß einer es tat,
liegt die Entscheidung:
in ihr hebt sich das Geschiedene auf,
und die unfaßbare Strahlung
wirkt den goldenen Faden
wirkender ein in das ganze Gewebe,
das zu bewahren wir wahrlich nichts sind
als die leidvoll Gemeinten.
6
Dem Jüngling vielleicht noch geziemt es zu glauben,
er entführe die Braut
und führe sie heim.
Aber es wisse der Mensch,
daß wir stets Schiffbrüchige sind der entferntesten Himmel,
und die noch verborgene Blüte des Menschseins
ist auf Zeiten hinaus
heimatlos hier.
Wer die Heimat verlor,
sie seit langem verlor,
er trauere nicht
und nehm' es zum Gleichnis,
da ihn das Leid des Menschseins
zum Ausdruck erkor:
Nur Heimatlosigkeit weist
über den Menschen hinaus,
über sein Hier- oder Dortsein,
und es erahnt sich in ihr
die verborgene Blüte:
die gänzliche Liebe.
Diese irgendwie zu enthalten,
sie derart zu halten,
daß sie uns würdig befindet und hält:
das ist's.
So aber,
wenn auch die dem Hiersein fremdeste
Heimat zu haben,
und damit dem Andern Heimat zu geben,
uneigene Heimat:
das ist's.
Trete hinaus,
erhebe dein Haupt:
es liegt auf Stirnen und Sternen ein Glänzen
− nur einen Schein lang in jedem Jahrhundert −,
da bricht eine winzige Spur der Liebe
tiefer ins Menschliche ein.
Sie zu bewahren,
sie wissend zu hegen,
über Leben und Tod noch hinaus
milde sie im Anderen kennend:
das ist's.
Sie wirke in den geringsten der Gesten,
derweilen Sonne und Mond und Gestirne
nur blaß sind im Gleichnis zu ihr,
nur blendend und flimmernd,
noch brennender Stein und glühende Luft,
aber ohne die Milde,
die dein innerstes Wissen meint,
tritt Ariadne der Mensch
in dein Leben
und dessen immer gleichzeitigen Tod.
*
Du aber danke wie einst,
und wie in späterer Zeit
danke auch heute und hier
und zu jeglicher Stunde.
Rühme und preise
niemals und nicht;
sei leise;
sei weder dunkel noch licht;
nimm in des Herzens innigste Neige
die ergoldende Spur,
daß sie sich darin wirkender zeige
als die Seele in der Natur.
Heilige nichts, aber dienender gib
ihr die umfassende Richtung im ganzen Gewebe:
sie, die auch dich in ihr Blühen trieb,
bewahrheite sie, auf daß sie Leben und Tod überlebe.
Einst vergeht alles, bis nichts mehr blieb;
alles vergeht; alles; außer der Liebe.
dies isse ein gedicht von eine herre geheisst:
"jean gebser"