Liebe Community,
Es ist keine Krise. Es ist nichtmal sonderlich unangenehm. 'Chaos' trifft es auf den Punkt. Eine wirre Entzweigung und Entmenschlichung. Ein Kampf zwischen unvereinbaren Gegensatzpaaren - Identität und Gesellschaft, Individualität und Anpassung, Trennung und Vereinbarung; und irgendwo dazwischen befinde ich mich, in meinem leblosen Dasein.
Es belustigt mich. Ich denke nach, besinne mich, lache und weine. Es ist absurd und ziellos, und doch allmächtig und stark. Es sind uneindeutige Gefühle, deren Macht alles mir bekannte übersteigt. Und doch sind sie nur zeitlebig und vergänglich und einmal mehr machen sie dem unersättlichen Verstand Platz, der mir seit jeher bester Freund und ärgster Feind ist. Was vermag mir eine auf die Umwelt reagierende Denkmaschine mitzuteilen? Ist es nicht paradox, dass ich glaube mein Verstand erfasse die Welt, wobei all jene Gedanken und Gefühle nur Reaktionen sind, die aufgrund der unterschiedlichen Eindrücklichkeit der Welt hervorgerufen werden? Mal geht es mir gut, mal schlecht - mal schmeckts, mal nicht. Und doch vermeine ich, meine Denkfabrik habe Einsicht in das Ding ansich. Von jedem Geist anders erkannt, von jedem Kopf völlig verkannt.
Die Welt spaltet sich. Subjekt und Objekt. Gefühl und Verstand. Leben und Tod. Lebendigkeit und Materie. Doch die selbst geschaffene Weltordnung, derer ich mich einst erfreute und in dessen Überlegenheit ich mich sonnte, ist unhaltbar in den chaotischen Zuständen der heutigen Gesellschaft. Aber was schimpfe ich die Welt chaotisch, wenn meine Idiotie von deren nur abweicht, wenn mein Kopf nur verkennt, was deren Wahrnehmung bekennt, anerkennt oder erkennt. Wortspielerei.
Was sind Worte? Eine Abstrahierung der viel zu komplexen Welt in simple Schallgebilde, welche am Ohr des anderen vorbei rauschen und ein bekanntes, in Erinnerung gerufenes Bild hinterlassen, welches infolgedessen interpretiert und missverstanden wird. Kann jemals Jemanden Worte als das auffassen, was mit ihnen im Versand verbunden wurde? Sagen wir nicht leichtfertig, man verstehe einander, wobei das Wortegerüst des anderen Geistes nur gerade zufällig oder schicksalhaft ins eigene passt? Verbindet man jemals ein Gefühl miteinander, oder ist es nur die sprachliche Komponente, der Verstand, der miteinander, zwischenmenschlich, verbunden wird? Der Verstand! Ein Teufelswerk in Gottes Händen. Er ist Reichtum. Ein Armutszeugnis des Reichtums. Seine Ungenauigkeit, seine Langsamkeit, seine oftmalige Naivität, seine Zwiespältigkeit. Er spricht in Rätseln und versucht sich dann selbst zu entschlüsseln. Er versucht in Bereiche vorzudringen, welche von den Schatten der Persönlichkeit verdeckt werden. Er analysiert ein Leben lang, generationsübergreifend, eine gesamte Evolution hinweg, wer dieses seltsame, durch Haut zusammengehaltene Gebilde in Wirklichkeit ist. Er stellt eine Theorie im Kopfe des Einen auf und verwirft dieselben von dem nächst besseren Kopf.
Doch ist unser Verstand nicht vorhersehbar, unwirklich, unnatürlich, trügerisch, täuscherisch, unhaltbar, unstet? Gibt er nicht in Wirklichkeit vor etwas zu sein, was er nicht ist? Verflucht er den Wirt nicht zur Täuschung? Ruft er nicht gar Geister empor, die jahrelang in Narrenschaft harren, bis sich der gute Mensch zu guter Letzt von ihnen befreit, und anschließend stirbt? Mir fällt auf, das mein Verstand nur eine wilde Statue ist, die derweil nicht in die Welt passt und nur durch Anpassung, Zucht und Ordnung, Einschränkung und quälender Erniedrigung in diese Welt passt. Spreche ich aus, was ich denke, so werde ich gemieden; zu verrückt klingen die Ideen eines Jünglings, dessen Lebenserfahrung zu gering ist, als dass er das Lebensgewicht auszumessen weiß. Lieber berufe man sich auf ungelebte Jahre, in denen die Arbeit Schwernis vorgab und Erfolge ausweisen ließ, die im Nachhinein als ruhmreich und identitätsfördernd angesehen werden. Dazu muss man sein halbes Leben gelebt haben. Lebensweisheit kommt aus dem Leben. Der Verstand weiß sich schon zu bilden. Aber wo bleibt der Drang zur Absurdität? Man verehrt die Künstler, weil das Kollektiv die Regel dafür vorschreibt. Aber wehe dem, der Einzelne wendet sich ab vom kollektiven Gedankengut und versucht sich in der Individualität. Dann weist man auf die vorgegebenen Pfade - in dieser Richtung sei der gute Bekannte von Ecke 6 12 gut aufgehoben, man habe Verbindungen dahin gehend, ja Connection; der dritte Weg stehe auch offen, er ist bepflastert, man verlange Wegzoll, wird aber dafür staatlich gefördert. Aber wie?! Er möchte mitten durch die Wiese laufen? Einfach so, gerade mal das dort vereinzelt Fußspuren zu finden sind? Wie kann man nur den Drang haben, zu tun, was kein anderer tat; zu sein, was sonst keiner ist? Unmöglich, völlig unverständlich. Absurd. Hexerisch!
Unsere Gesellschaft ist eine gegliederte Reihe von humorvollen, doch witzlosen Marionetten, die in ihrer Präsenz einem schlechten Film gleichkommen. Man lacht täglich über dieselben Witze, hört immer neu die gleichen Geschichten, amüsiert sich immer wieder an der Selbstironie billiger Clowns. Sobald ich anfange Leidenschaft zu entwickeln, Feuer zu entfachen, Individualität auszubauen, Interessen zu verfolgen, Erfahrungen zu machen und an Größe zu gewinnen, stoße ich an dieselbe, tückische Wand der Gesellschaft. Man zeigt mir durch allerhand Worte die Wege auf, welche asphaltiert und als gesichert gelten, welche ich gehen könnte um die Treppe der Gesellschaft zu besteigen. Aber das laue fade Lüftchen ist mir äußerst zuwider, es ist bekannt, schmeckt immer gleich, entwickelt sich nicht weiter. Ich blicke auf zu den Oberen - bis ich oben stehe. Und dann werde ich von unten beäugt. Die Leidenschaft in mir ist viel ergiebiger. Sie lässt mich bluten und verbrennen. Sie sticht mir einen Dolch in den Leib und verwöhnt mich mit ihrem Schmerz. Und dieser Schmerz spottet der Gewohnheit. Genüsslich tropft mein Blut zu Boden und ich lache über die Eigensinnigkeit des Schicksals...
Doch wieder und wieder rufen mich die Worte zurück. Die Worte der Normalität, Pflichterfüllung, Gewohnheit, Sinnlosigkeit, Monotonie. Die Worte, die Zauberei verächten und sich vor Hexen fürchten. Die Worte, die am liebsten, tagein tagaus, dasselbe sagen würden und niemals wagen, ein gewohnheitsbrecherisches Paradoxon aufzuwerfen.
Lebe ich für mich, so hasse ich die Gesellschaft. Lebe ich für die Gesellschaft, so hasse ich mich. In mir selbst fühle ich mich wohl, in meiner Leidenschaft blühe ich auf; so sitze ich denn halbnackt vorm PC, lausche berauschender Musik, versinke in den unendlichen Tiefen der daraus entstehenden Gefühlswelt und erfreue mich am reinen, urinstinktiven Sein. Doch so lange ich Ich bin, pralle ich ab an der Welt, der Unsinnigkeit und Unstimmigkeit einer falschen, unnötig komplexen Weltordnung. Einen Kompromiss gibt es nicht. Es gibt nur Mich. Mich und die Welt. Die Welt in mir.
Ich schrieb euch meine Gedanken nieder. Es ist eine verwirrende, unzusammenhängende Fülle von Gedanken und Gefühle. Ich musste sie festhalten, durfte sie nicht verflüchtigen lassen. Denn sonst könnte ich mir das nicht verzeihen.
Denn wenn man schweigt und die Sehnsucht unterdrückt, wird man am Ende ein Gefangener seiner eigenen Welt.
Wer möchte kann genau wie ich seine Gedanken von sich werfen. Hierin können wir über Krisen, Absurdität und Unstimmigkeit diskutieren. Aber bitte - lasset die kleine Stimme, welche euch mahnt, die Moral zur obersten Direktive zu ernennen, daheim. Schreibt was ihr denkt, denkt wie es euch beliebt.
Es grüßt euch,
Yagé
Ein zweckgebundenes Chaos
1Die Realität ist Spiegelbild der Seele; wird nun das Innere verzerrt, so verschieben sich auch die Wesenszüge der Wirklichkeit.