Der Verlust von Essenz
Verfasst: 7. Oktober 2008, 12:14
Bezugnehmend auf den Thread von Erraphex:"Der Erleuchtungswahn" und der Fragestellung von Phönix im "Dukkha"-Thread, komme ich nicht umhin, nochmal den Almaas zu bringen. Hier geht es, wie der Titel schon sagt, um den Verlust von Essenz. Das ist das dritte Kapitel aus dem Buch, wenn auch in stark gekürzter Form. Das dadurch gewisse Feinheiten verloren gehen, wird aufgewogen durch die bessere - nennen wir es mal - "Konsumierbarkeit".
------------------
Der Verlust von Essenz
Wenn Essenz ist, was wir sind, nämlich unser wahres Wesen, warum ist dann die Mehrheit der Menschheit mit ihr überhaupt nicht in Kontakt? Warum ist sie etwas, das wir erst suchen? Um diese Frage zu beantworten, ist es nützlich, kleine Kinder und Säuglinge aus der Perspektive von Essenz zu beobachten. Die vielen Untersuchungen, die Psychologen in den letzten Jahrzehnten an Kindern und Säuglingen angestellt haben, haben viel nützlichesWissen erbracht. Natürlich sind diese Studien nicht aus der Perspektive von Essenz, sondern aus sozialer, psychologischer und physiologischer Perspektive entstanden. Normalerweise wurden sie von Wissenschaftlern durchgeführt, deren Weltbild Essenz nicht einschließt. Jetzt aber brauchen wir Informationen über Essenz und kleine Kinder. Wir bekommen diese Informationen, wenn wir nicht nur mit unseren beiden Augen beobachten, sondern auch mit unseren feinstofflichen Vermögen der Wahrnehmung, die Essenz unmittelbar wahrnehmen können, ohne irgendein Schlußfolgern. Das ist die einzige Weise, auf die Essenz beobachtet und untersucht werden kann. Dann vergleichen wir diese Beobachtungen mit denen an Erwachsenen.
Wenn wir in dieser Weise beobachten, finden wir, daß Säuglinge und sehr kleine Kinder nicht nur Essenz haben, sondern daß sie mit ihrer Essenz in Kontakt sind. Sie sind mit ihrer Essenz identifiziert, sie sind die Essenz. Die innere Erfahrung eines Säuglings ist zum größten Teil eine Erfahrung von Essenz in ihren verschiedenen Qualitäten. Das bedeutet natürlich nicht, daß sich der Säugling begrifflich der Existenz von Essenz bewußt ist. Der Säugling kennt Essenz sehr gut und ist mit ihr sehr vertraut, aber ohne geistige Beteiligung und ohne Erkenntnisakt.
Wir wissen das aus der Erfahrung von Erwachsenen, die ihre Essenz entdecken und sich erinnern, daß sie sie in gewisser Weise aus ihrer Kindheit kennen. Mit anderen Worten, der Säugling kennt Essenz, aber weiß nicht, daß er sie kennt. Erist nicht zu ihrer Präsenz und ihrem Wesen erwacht.
Die Tatsache, daß Menschen mit Essenz geboren werden, ist seit alter Zeit bekannt. Der Säugling wird nicht nur mit Essenz geboren, vielmehr ist er selbst Essenz. Bei der Beschreibung von Essenz sagt Gurdjieff: "Man muß wissen, daß der Mensch aus zwei Teilen besteht: Essenz und Persönlichkeit. Essenz ist im Menschen das, was sein Eigenes ist. Persönlichkeit ist beim Menschen das, was 'nicht sein Eigenes' ist. Ein kleines Kind hat noch keine Persönlichkeit. Es ist das, was es wirklich ist. Es ist Essenz. Seine Begierden, sein Geschmack, was es mag und was es nicht mag: alles das drückt sein Wesen so aus, wie es ist."
Wir können also schließen, daß Menschen mit Essenz geboren werden, aber sie schließlich später nicht mehr haben. Offenbar verliert man sie irgendwie oder man verliert die Verbindung mit ihr. Das heißt nicht, daß ein kleines Kind Essenz genauso erfährt wie ein Erwachsener. Ein Kleinkind erfährt Essenz, aber für einen Erwachsenen ist sie entwickelter, ausgedehnter, bestimmter, mächtiger und wirkt auf eine Weise, die beim Kleinkind nur als Potential da ist. Die Essenz des kleinen Kindes hat nicht die Unermeßlichkeit, die Tiefe und den Reichtum, mit der sie ein Erwachsener erfährt. Im allgemeinen ist sie leichter, in gewissem Sinn, verdünnter. Der Erwachsene kann seine Essenz auch in einer so leichten und weichen Weise erfahren, aber sie hat dann mehr Dimensionen und Bedeutsamkeit. Ihre Fähigkeiten haben mehr Wachstum hinter sich und sind entwickelter. Auch hat ein Erwachsener die Möglichkeit, zur Präsenz von Essenz und ihrem Wesen zu erwachen.
.....
Doch wie gesagt, das Kleinkind ist sich Essenz begrifflich oder aus der Perspektive eines Beobachters nicht bewußt. Es ist die Essenz, deshalb erfährt es die duale Einheit der symbiotischen Phase als die verschmelzende Essenz. Wessen es sich undeutlich bewußt ist, ist die Präsenz der Mutter und seiner selbst als "Eins" und dieses "Eine" empfindet es als verschmelzende Liebe. Wie Mahler sagt, gibt es noch keine Unterscheidung von innen und außen, zwischen Selbst und Mutter. Es ist eine duale Einheit und die nimmt es wahr. Und doch nimmt es in Wahrheit den verschmelzenden Aspekt von Essenz wahr. Das Kind weiß nicht, daß es die verschmelzende Liebe ist. Es gibt immer noch kein Gefühl eines getrennten Selbst in dieser Phase. So hat das Kind also ganz zu Anfang der Ich-Bildung den Eindruck, daß die duale Einheit verschmelzende Essenz ist.
Dieser anfängliche, primitive Eindruck des Babys ist falsch, weil es selbst die verschmelzende Essenz ist. Aber dieser falsche Eindruck liegt an der Wurzel der Persönlichkeit. Diese Gleichsetzung der dualen Einheit mit der verschmelzenden Essenz bleibt im Unbewußten, an der Wurzel der Persönlichkeit, für den Rest des Lebens dieses Individuums.
Dies ist ein subtiler Punkt, aber von fundamentaler Wichtigkeit für das Verständnis der Beziehung der Persönlichkeit zu Essenz. Wann immer es zu einem Verlust der symbiotischen, dualen Einheit mit der Mutter kommt, erlebt das Kind den Verlust der verschmelzenden Essenz. Um es noch einmal zu wiederholen: das ist so, weil für das Kind der essentielle Aspekt der verschmelzenden Liebe die duale Einheit mit der Mutter ist. Die ist es, der es sich bewußt ist, wenn es verschmelzende Liebe erfährt. Es hat noch nicht die Fähigkeit der Introspektion, deshalb ist es sich der Präsenz dieses Aspektes von Essenz nicht aus der Sicht eines Beobachters bewußt. Es genießt die verschmelzende Liebe, aber nimmt sie als die undifferenzielte Einheit mit der Mutter wahr. In seinem Bewußtsein entwickelt sich auf der primitiven Ebene seines Ich die Assoziation von liebevoller Nähe zur Mutter mit der verschmelzenden Liebe von Essenz.
Wann immer diese Nähe, diese symbiotische Einheit, fehlt, verschwindet auch die verschmelzende Liebe der Essenz. Diese befriedigende symbiotische Einheit kann aus vielen Gründen verloren gehen: Zurückweisung durch die Mutter, zu große Entfernung zu ihr, Enttäuschung durch sie, Klammern von ihrer Seite aus, physische oder emotionale Verlassenheit, tatsächlicher Verlust, um nur ein paar zu nennen.
Weil es keine vollkommene symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind gibt, geht diese symbiotische Einheit in jedem Fall verloren. Daskann an vielen Faktoren liegen, meistens unvermeidbaren. Der Verlust kann aber auf vielerlei Weisen geschehen, manche sind schmerzhafte'r als andere, manche früher als andere, manche abrupter als andere, und so weiter. Hier mehr in Einzelheiten zu gehen, würde uns vom Thema wegführen. Hier ist nur wichtig, daß verschmelzende Essenz an einem bestimmten Punkt verloren geht.
Das Baby erfährt zugleich den Verlust des essentiellen Aspekts von verschmelzender Liebe und den Verlust der positiven, befriedigenden, symbiotischen Beziehung zur Mutter. Es fühlt, daß es die verschmelzende Liebe verloren hat, glaubt aber, es habe die duale Einheit verloren. Es beginnt, sich unvollständig zu fühlen, weil es einen essentiellen Teil von sich verloren hat, seine verschmelzende Liebe, Es weiß das nur undeutlich, nur unterbewußt sozusagen. Aber was es beobachtet, ist der Verlust der befriedigenden, symbiotischen Beziehung zur Mutter; deshalb nimmt es natürlich an, daß sein Gefühl die Folge des Verlustes dieser Beziehung ist. Unterbewußt glaubt es in der Tat, und mit der Zeit unbewußt, daß der Teil von ihm, den es verloren hat, die Mutter ist. Das kann leicht passieren, weil es in der symbiotischen Phase noch keine Differenzierung zwischen Selbst und Mutter gibt. Wenn es anfängt, zu unterscheiden und die Mutter als eine getrennte Person zu sehen, dann kann es nur annehmen, was es verloren hat, sei seine Mutter.
Es gibt einen anderen subtilen Punkt während der symbiotischen Phase. Das Baby fühlt, daß etwas es verlassen hat und hält die "gute Mutter" für das, was es verlassen hat. Während der symbiotischen Phase kann es die Vorstellung, daß es etwas verloren hat, noch nicht haben, weil "es" als getrennte Person noch nicht existiert, noch nicht in seinem Bewußtsein, Deshalb kann dieser Mensch später, wenn ihn der Verlust der verschmelzenden Essenz beschäftigt, diesen Verlust nur als den Verlust der "guten Mutter" verstehen. Das ist so, weil er jetzt ein eigenständiges Individuum ist und als duale Einheit nicht handeln oder sich verhalten kann, wenigstens nicht bewußt. Tief in seinem Unbewußten setzt er den Verlust der verschmelzenden Essenz mit dem Verlust der dualen Einheit gleich. Dessen kann er sich nicht bewußt werden oder er verliert sein Gefühl, ein eigenständiges Individuum zu sein.
Wenn verschmelzende Liebe verloren wird, dann bleibt an ihrer Stelleein Vakuum, eine Leere, ein Loch in seinem Sein.Verschmelzende Liebe von Essenz ist eine Fülle - etwas ist da. Es ist eine zarte, weiche Fülle, eine substantielle Präsenz. Deshalb hinterläßt ihr Verlust eine Erfahrung einer Abwesenheit, eines Fehlens, das das Kind scharf und schmerzhaft empfindet. Wenn ein Erwachsener diese Leere oder dieses Loch empfindet, dann wird es normalerweise als eine Unvollständigkeit, als ein Fehlen, als tiefer Mangel empfunden. Diese Leere eines Mangels ist für das Kind zu schmerzhaft, sowohl physisch als auch emotional, als daß es sie aushalten könnte. Es empfindet sie auch als Bedrohung für die sich gerade bildende Ich-Struktur. Diese Struktur ist noch zu schwach und empfindlich, um so einen Verlust zu ertragen, der gerade in der Anfangsphase der Ich-Bildung eintritt. Das Ich braucht für seinen schwankenden und noch schwachen Zusammenhalt immer noch die Erfahrung der befriedigenden symbiotischen Einheit. Das Gefühl des Verlustes der verschmelzenden Essenz, der für das Kind der vollständige Verlust der "guten Mutter" bedeutet, ganz zuzulassen, wäre vernichtend. Das Kind fühlt immer noch für sein physisches und psychisches Überleben das Bedürfnis nach der "guten" Mutter. Deshalb führt das wirkliche Gefühl des Verlustes zu einer großen Angst: der Furcht vor totaler Vernichtung und Auflösung.
So lernt das Kind, den Verlust und die damit entstehende Leere nicht zu fühlen. Es lernt, diese Leere zu füllen, zuzudecken, zu begraben. Es verdrängt sie nicht nur ins Unbewußte, es füllt sie auch mit allen möglichen Emotionen, Überzeugungen, Träumen und Phantasien.
.....
Mit der Zeit hat man dann keine bewußte Erfahrung mehr von Essenz. Statt Essenz oder Sein gibt es dann viele Löcher: alle möglichen Arten von tiefem Mangel. Doch dieses durchlöcherten Zustandes ist man sich normalerweise nicht bewußt, sondern stattdessen der Füllung, die das Bewußtsein von Mangel verbirgt und die man dann für die eigene Persönlichkeit hält. Deshalb nennen Menschen, die sich Essenz bewußt sind, diese Persönlichkeit falsche Persönlichkeit. Man glaubt aufrichtig, daß das, dessen man sich bewußt ist, man selbst ist, und weiß nicht, daß es nur etwas ist, was ein Loch füllt, Schleier über Schleier vor den ursprünglichen Erfahrungen von Verlust. Was normalerweise von der Erfahrung von Essenz und ihres Verlustes noch da ist, ist ein vages Gefühl von Unvollständigkeit, das nagende Gefühl eines Mangels, das zunimmt und sich vertieft, je älter man wird. Doch gilt das nur von einem sogenannten normalen Menschen, der angepaßten Persönlichkeit, dem Standard psychischer Ausgeglichenheit in unserer Kultur.
Aber für viele andere, deren Versuche, eine Persönlichkeit zu entwickeln, nicht so erfolgreich waren, bei denen Schwierigkeiten in der Kindheit zu schmerzhaft waren, um diese Persönlichkeit funktionieren zu lassen, ist das Gefühl von Mangel und Unvollständigkeit viel schärfer, viel schmerzhafter und wirkt sich im Leben als viel hinderlicher aus.
Dieser Zustand, in dem man die Persönlichkeit als die wahre Identität und Herr unseres Lebens nimmt, ist das, was die Sufis den Zustand des Schlafes nennen. Der Sufi-Meister Sanai von Afghanistan drückt das so aus: "Die Menschheit schläft, kümmert sich nur um das, was nutzlos ist, und lebt in einer falschen Welt."
Die Essenz ist nicht mehr da und die Persönlichkeit beansprucht ihren Platz. Die Hülle gibt sich als Essenz, die Lüge als Wahrheit. Kein Wunder, daß man sagt, der Mensch lebe in einer verdrehten Welt.
.....
Der Mensch weiß nicht mehr, worum es im Leben, in seinem Sein, in seiner Existenz geht. Er weiß nicht länger, warum er lebt, was er tun soll, wohin er geht und vor allem nicht, wer er ist. Er ist wirklich ganz und gar verloren und in der Irre.
Er kann sich nur an seine Persönlichkeit halten, an die Umwelt, die sie hat entstehen lassen, sich an den Normen der Gesellschaft orientieren, in der er lebt und versuchen, jederzeit seine Ich-Identität aufrechtzuerhalten und zu stärken. Er ist sich nicht bewußt, daß er verloren ist, weil er immer versucht, gewissen Normen von Erfolg oder Image zu genügen und die Träume seiner Persönlichkeit zu verwirklichen - und doch verfehlt er die ganze Zeit den Sinn des Ganzen. Erlebt nicht mehr das Leben des Seins, sondern nur das Leben der Persönlichkeit und das ist seinem Wesen nach falsch und voller Leiden. Er lebt in Anspannung, Kontraktion und Einengung. Er kennt nicht die Freiheit, zu sein und sich zu freuen. Die wahre Orientierung auf das Leben von Essenz, die Orientierung, die zu einem harmonischen menschlichen Leben hinführt, fehlt oder ist entstellt.
Dieser Verlust an Perspektive und Orientierung führt zum Verlust von Realität. Das Individuum hat nur Illusionen vor Augen, folgt nur Illusionen, denn diese Illusionen hält es für Realität. Wir sprechen hier nicht nur über den neurotischen oder pathologischen Menschen. So ein Mensch sieht zwar nicht die Realität des durchschnittlichen und angepaßten Bürgers der Gesellschaft. Aber das bedeutet, daß er nicht die Wirklichkeit der Persönlichkeit sieht; seine Persönlichkeit ist unvollständig, entstellt oder zu starr.
Wir sprechen hier vor allem über den normalen, angepaßten Menschen, jemanden mit einer mehr oder weniger vollständigen und gut funktionierenden Persönlichkeit. Dieser Mensch sieht nur die Realität der Persönlichkeit und wir haben die Wahrheit dieser Realität gesehen, was die Persönlichkeit in Wahrheit ist: daß sie nicht das Sein ist, sondern ein Ersatz, der Wahrheit vortäuscht.
Der wichtigste und tragischste Aspekt dieses Verlustes von Realität ist der Verlust dessen, was einen vollständigen Menschen ausmacht, einen Menschen, der sein menschliches Element nicht verloren hat, seine Essenz. In einer sehr realen Bedeutung ist ein Mensch, der nicht mit seiner Essenz verbunden ist, kein Mensch: weil das, was den Menschen zum Menschen macht, die Essenz ist. Er ist immer noch ein Potential, ein Mensch im Zustand des Samens. Deshalb sagten manche der Alten, daß nur die Weisen menschlich sind, das heißt die, die fähig sind, Essenz zu erkennen und zu sein. El-Ghazali, ein Sufi des elften Jahrhunderts, sagt es so: "Weisheit ist so wichtig, daß man sagen kann, die Menschheit besteht nur aus Weisen."
Der Zustand der meisten Menschen ist sogar noch tragischer als das. Nicht nur, daß der Mensch sein Menschsein verloren, hat, er hat buchstäblich seine Existenz verloren. Ein Mensch, der nicht sein Sein ist, der nicht Essenz ist, existiert nicht wirklich. Er ist nicht mit Existenz in Kontakt, weil Existenz, wie wir gesehen haben, der tiefste Aspekt und das tiefste Charakteristikum von Essenz ist.
Die Erfahrung eines solchen Menschen, ob normal oder pathologisch, ist die Erfahrung der Persönlichkeit. Wie wir gesehen haben, ist die tiefste Natur der Persönlichkeit ein Mangel, ein Loch, ein Fehlen, eine Nichtexistenz. Wir können El-Ghazalis Aussage also hinzufügen: nicht nur ist es wahr, daß die Menschheit eigentlich nur aus den Weisen besteht, sondern im wahren Sinn existieren auch nur die Weisen.
------------------
An dieser Stelle kann ich es mir nicht verkneifen, noch Eins vom C.C. draufzusetzten:

------------------
Der Verlust von Essenz
Wenn Essenz ist, was wir sind, nämlich unser wahres Wesen, warum ist dann die Mehrheit der Menschheit mit ihr überhaupt nicht in Kontakt? Warum ist sie etwas, das wir erst suchen? Um diese Frage zu beantworten, ist es nützlich, kleine Kinder und Säuglinge aus der Perspektive von Essenz zu beobachten. Die vielen Untersuchungen, die Psychologen in den letzten Jahrzehnten an Kindern und Säuglingen angestellt haben, haben viel nützlichesWissen erbracht. Natürlich sind diese Studien nicht aus der Perspektive von Essenz, sondern aus sozialer, psychologischer und physiologischer Perspektive entstanden. Normalerweise wurden sie von Wissenschaftlern durchgeführt, deren Weltbild Essenz nicht einschließt. Jetzt aber brauchen wir Informationen über Essenz und kleine Kinder. Wir bekommen diese Informationen, wenn wir nicht nur mit unseren beiden Augen beobachten, sondern auch mit unseren feinstofflichen Vermögen der Wahrnehmung, die Essenz unmittelbar wahrnehmen können, ohne irgendein Schlußfolgern. Das ist die einzige Weise, auf die Essenz beobachtet und untersucht werden kann. Dann vergleichen wir diese Beobachtungen mit denen an Erwachsenen.
Wenn wir in dieser Weise beobachten, finden wir, daß Säuglinge und sehr kleine Kinder nicht nur Essenz haben, sondern daß sie mit ihrer Essenz in Kontakt sind. Sie sind mit ihrer Essenz identifiziert, sie sind die Essenz. Die innere Erfahrung eines Säuglings ist zum größten Teil eine Erfahrung von Essenz in ihren verschiedenen Qualitäten. Das bedeutet natürlich nicht, daß sich der Säugling begrifflich der Existenz von Essenz bewußt ist. Der Säugling kennt Essenz sehr gut und ist mit ihr sehr vertraut, aber ohne geistige Beteiligung und ohne Erkenntnisakt.
Wir wissen das aus der Erfahrung von Erwachsenen, die ihre Essenz entdecken und sich erinnern, daß sie sie in gewisser Weise aus ihrer Kindheit kennen. Mit anderen Worten, der Säugling kennt Essenz, aber weiß nicht, daß er sie kennt. Erist nicht zu ihrer Präsenz und ihrem Wesen erwacht.
Die Tatsache, daß Menschen mit Essenz geboren werden, ist seit alter Zeit bekannt. Der Säugling wird nicht nur mit Essenz geboren, vielmehr ist er selbst Essenz. Bei der Beschreibung von Essenz sagt Gurdjieff: "Man muß wissen, daß der Mensch aus zwei Teilen besteht: Essenz und Persönlichkeit. Essenz ist im Menschen das, was sein Eigenes ist. Persönlichkeit ist beim Menschen das, was 'nicht sein Eigenes' ist. Ein kleines Kind hat noch keine Persönlichkeit. Es ist das, was es wirklich ist. Es ist Essenz. Seine Begierden, sein Geschmack, was es mag und was es nicht mag: alles das drückt sein Wesen so aus, wie es ist."
Wir können also schließen, daß Menschen mit Essenz geboren werden, aber sie schließlich später nicht mehr haben. Offenbar verliert man sie irgendwie oder man verliert die Verbindung mit ihr. Das heißt nicht, daß ein kleines Kind Essenz genauso erfährt wie ein Erwachsener. Ein Kleinkind erfährt Essenz, aber für einen Erwachsenen ist sie entwickelter, ausgedehnter, bestimmter, mächtiger und wirkt auf eine Weise, die beim Kleinkind nur als Potential da ist. Die Essenz des kleinen Kindes hat nicht die Unermeßlichkeit, die Tiefe und den Reichtum, mit der sie ein Erwachsener erfährt. Im allgemeinen ist sie leichter, in gewissem Sinn, verdünnter. Der Erwachsene kann seine Essenz auch in einer so leichten und weichen Weise erfahren, aber sie hat dann mehr Dimensionen und Bedeutsamkeit. Ihre Fähigkeiten haben mehr Wachstum hinter sich und sind entwickelter. Auch hat ein Erwachsener die Möglichkeit, zur Präsenz von Essenz und ihrem Wesen zu erwachen.
.....
Doch wie gesagt, das Kleinkind ist sich Essenz begrifflich oder aus der Perspektive eines Beobachters nicht bewußt. Es ist die Essenz, deshalb erfährt es die duale Einheit der symbiotischen Phase als die verschmelzende Essenz. Wessen es sich undeutlich bewußt ist, ist die Präsenz der Mutter und seiner selbst als "Eins" und dieses "Eine" empfindet es als verschmelzende Liebe. Wie Mahler sagt, gibt es noch keine Unterscheidung von innen und außen, zwischen Selbst und Mutter. Es ist eine duale Einheit und die nimmt es wahr. Und doch nimmt es in Wahrheit den verschmelzenden Aspekt von Essenz wahr. Das Kind weiß nicht, daß es die verschmelzende Liebe ist. Es gibt immer noch kein Gefühl eines getrennten Selbst in dieser Phase. So hat das Kind also ganz zu Anfang der Ich-Bildung den Eindruck, daß die duale Einheit verschmelzende Essenz ist.
Dieser anfängliche, primitive Eindruck des Babys ist falsch, weil es selbst die verschmelzende Essenz ist. Aber dieser falsche Eindruck liegt an der Wurzel der Persönlichkeit. Diese Gleichsetzung der dualen Einheit mit der verschmelzenden Essenz bleibt im Unbewußten, an der Wurzel der Persönlichkeit, für den Rest des Lebens dieses Individuums.
Dies ist ein subtiler Punkt, aber von fundamentaler Wichtigkeit für das Verständnis der Beziehung der Persönlichkeit zu Essenz. Wann immer es zu einem Verlust der symbiotischen, dualen Einheit mit der Mutter kommt, erlebt das Kind den Verlust der verschmelzenden Essenz. Um es noch einmal zu wiederholen: das ist so, weil für das Kind der essentielle Aspekt der verschmelzenden Liebe die duale Einheit mit der Mutter ist. Die ist es, der es sich bewußt ist, wenn es verschmelzende Liebe erfährt. Es hat noch nicht die Fähigkeit der Introspektion, deshalb ist es sich der Präsenz dieses Aspektes von Essenz nicht aus der Sicht eines Beobachters bewußt. Es genießt die verschmelzende Liebe, aber nimmt sie als die undifferenzielte Einheit mit der Mutter wahr. In seinem Bewußtsein entwickelt sich auf der primitiven Ebene seines Ich die Assoziation von liebevoller Nähe zur Mutter mit der verschmelzenden Liebe von Essenz.
Wann immer diese Nähe, diese symbiotische Einheit, fehlt, verschwindet auch die verschmelzende Liebe der Essenz. Diese befriedigende symbiotische Einheit kann aus vielen Gründen verloren gehen: Zurückweisung durch die Mutter, zu große Entfernung zu ihr, Enttäuschung durch sie, Klammern von ihrer Seite aus, physische oder emotionale Verlassenheit, tatsächlicher Verlust, um nur ein paar zu nennen.
Weil es keine vollkommene symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind gibt, geht diese symbiotische Einheit in jedem Fall verloren. Daskann an vielen Faktoren liegen, meistens unvermeidbaren. Der Verlust kann aber auf vielerlei Weisen geschehen, manche sind schmerzhafte'r als andere, manche früher als andere, manche abrupter als andere, und so weiter. Hier mehr in Einzelheiten zu gehen, würde uns vom Thema wegführen. Hier ist nur wichtig, daß verschmelzende Essenz an einem bestimmten Punkt verloren geht.
Das Baby erfährt zugleich den Verlust des essentiellen Aspekts von verschmelzender Liebe und den Verlust der positiven, befriedigenden, symbiotischen Beziehung zur Mutter. Es fühlt, daß es die verschmelzende Liebe verloren hat, glaubt aber, es habe die duale Einheit verloren. Es beginnt, sich unvollständig zu fühlen, weil es einen essentiellen Teil von sich verloren hat, seine verschmelzende Liebe, Es weiß das nur undeutlich, nur unterbewußt sozusagen. Aber was es beobachtet, ist der Verlust der befriedigenden, symbiotischen Beziehung zur Mutter; deshalb nimmt es natürlich an, daß sein Gefühl die Folge des Verlustes dieser Beziehung ist. Unterbewußt glaubt es in der Tat, und mit der Zeit unbewußt, daß der Teil von ihm, den es verloren hat, die Mutter ist. Das kann leicht passieren, weil es in der symbiotischen Phase noch keine Differenzierung zwischen Selbst und Mutter gibt. Wenn es anfängt, zu unterscheiden und die Mutter als eine getrennte Person zu sehen, dann kann es nur annehmen, was es verloren hat, sei seine Mutter.
Es gibt einen anderen subtilen Punkt während der symbiotischen Phase. Das Baby fühlt, daß etwas es verlassen hat und hält die "gute Mutter" für das, was es verlassen hat. Während der symbiotischen Phase kann es die Vorstellung, daß es etwas verloren hat, noch nicht haben, weil "es" als getrennte Person noch nicht existiert, noch nicht in seinem Bewußtsein, Deshalb kann dieser Mensch später, wenn ihn der Verlust der verschmelzenden Essenz beschäftigt, diesen Verlust nur als den Verlust der "guten Mutter" verstehen. Das ist so, weil er jetzt ein eigenständiges Individuum ist und als duale Einheit nicht handeln oder sich verhalten kann, wenigstens nicht bewußt. Tief in seinem Unbewußten setzt er den Verlust der verschmelzenden Essenz mit dem Verlust der dualen Einheit gleich. Dessen kann er sich nicht bewußt werden oder er verliert sein Gefühl, ein eigenständiges Individuum zu sein.
Wenn verschmelzende Liebe verloren wird, dann bleibt an ihrer Stelleein Vakuum, eine Leere, ein Loch in seinem Sein.Verschmelzende Liebe von Essenz ist eine Fülle - etwas ist da. Es ist eine zarte, weiche Fülle, eine substantielle Präsenz. Deshalb hinterläßt ihr Verlust eine Erfahrung einer Abwesenheit, eines Fehlens, das das Kind scharf und schmerzhaft empfindet. Wenn ein Erwachsener diese Leere oder dieses Loch empfindet, dann wird es normalerweise als eine Unvollständigkeit, als ein Fehlen, als tiefer Mangel empfunden. Diese Leere eines Mangels ist für das Kind zu schmerzhaft, sowohl physisch als auch emotional, als daß es sie aushalten könnte. Es empfindet sie auch als Bedrohung für die sich gerade bildende Ich-Struktur. Diese Struktur ist noch zu schwach und empfindlich, um so einen Verlust zu ertragen, der gerade in der Anfangsphase der Ich-Bildung eintritt. Das Ich braucht für seinen schwankenden und noch schwachen Zusammenhalt immer noch die Erfahrung der befriedigenden symbiotischen Einheit. Das Gefühl des Verlustes der verschmelzenden Essenz, der für das Kind der vollständige Verlust der "guten Mutter" bedeutet, ganz zuzulassen, wäre vernichtend. Das Kind fühlt immer noch für sein physisches und psychisches Überleben das Bedürfnis nach der "guten" Mutter. Deshalb führt das wirkliche Gefühl des Verlustes zu einer großen Angst: der Furcht vor totaler Vernichtung und Auflösung.
So lernt das Kind, den Verlust und die damit entstehende Leere nicht zu fühlen. Es lernt, diese Leere zu füllen, zuzudecken, zu begraben. Es verdrängt sie nicht nur ins Unbewußte, es füllt sie auch mit allen möglichen Emotionen, Überzeugungen, Träumen und Phantasien.
.....
Mit der Zeit hat man dann keine bewußte Erfahrung mehr von Essenz. Statt Essenz oder Sein gibt es dann viele Löcher: alle möglichen Arten von tiefem Mangel. Doch dieses durchlöcherten Zustandes ist man sich normalerweise nicht bewußt, sondern stattdessen der Füllung, die das Bewußtsein von Mangel verbirgt und die man dann für die eigene Persönlichkeit hält. Deshalb nennen Menschen, die sich Essenz bewußt sind, diese Persönlichkeit falsche Persönlichkeit. Man glaubt aufrichtig, daß das, dessen man sich bewußt ist, man selbst ist, und weiß nicht, daß es nur etwas ist, was ein Loch füllt, Schleier über Schleier vor den ursprünglichen Erfahrungen von Verlust. Was normalerweise von der Erfahrung von Essenz und ihres Verlustes noch da ist, ist ein vages Gefühl von Unvollständigkeit, das nagende Gefühl eines Mangels, das zunimmt und sich vertieft, je älter man wird. Doch gilt das nur von einem sogenannten normalen Menschen, der angepaßten Persönlichkeit, dem Standard psychischer Ausgeglichenheit in unserer Kultur.
Aber für viele andere, deren Versuche, eine Persönlichkeit zu entwickeln, nicht so erfolgreich waren, bei denen Schwierigkeiten in der Kindheit zu schmerzhaft waren, um diese Persönlichkeit funktionieren zu lassen, ist das Gefühl von Mangel und Unvollständigkeit viel schärfer, viel schmerzhafter und wirkt sich im Leben als viel hinderlicher aus.
Dieser Zustand, in dem man die Persönlichkeit als die wahre Identität und Herr unseres Lebens nimmt, ist das, was die Sufis den Zustand des Schlafes nennen. Der Sufi-Meister Sanai von Afghanistan drückt das so aus: "Die Menschheit schläft, kümmert sich nur um das, was nutzlos ist, und lebt in einer falschen Welt."
Die Essenz ist nicht mehr da und die Persönlichkeit beansprucht ihren Platz. Die Hülle gibt sich als Essenz, die Lüge als Wahrheit. Kein Wunder, daß man sagt, der Mensch lebe in einer verdrehten Welt.
.....
Der Mensch weiß nicht mehr, worum es im Leben, in seinem Sein, in seiner Existenz geht. Er weiß nicht länger, warum er lebt, was er tun soll, wohin er geht und vor allem nicht, wer er ist. Er ist wirklich ganz und gar verloren und in der Irre.
Er kann sich nur an seine Persönlichkeit halten, an die Umwelt, die sie hat entstehen lassen, sich an den Normen der Gesellschaft orientieren, in der er lebt und versuchen, jederzeit seine Ich-Identität aufrechtzuerhalten und zu stärken. Er ist sich nicht bewußt, daß er verloren ist, weil er immer versucht, gewissen Normen von Erfolg oder Image zu genügen und die Träume seiner Persönlichkeit zu verwirklichen - und doch verfehlt er die ganze Zeit den Sinn des Ganzen. Erlebt nicht mehr das Leben des Seins, sondern nur das Leben der Persönlichkeit und das ist seinem Wesen nach falsch und voller Leiden. Er lebt in Anspannung, Kontraktion und Einengung. Er kennt nicht die Freiheit, zu sein und sich zu freuen. Die wahre Orientierung auf das Leben von Essenz, die Orientierung, die zu einem harmonischen menschlichen Leben hinführt, fehlt oder ist entstellt.
Dieser Verlust an Perspektive und Orientierung führt zum Verlust von Realität. Das Individuum hat nur Illusionen vor Augen, folgt nur Illusionen, denn diese Illusionen hält es für Realität. Wir sprechen hier nicht nur über den neurotischen oder pathologischen Menschen. So ein Mensch sieht zwar nicht die Realität des durchschnittlichen und angepaßten Bürgers der Gesellschaft. Aber das bedeutet, daß er nicht die Wirklichkeit der Persönlichkeit sieht; seine Persönlichkeit ist unvollständig, entstellt oder zu starr.
Wir sprechen hier vor allem über den normalen, angepaßten Menschen, jemanden mit einer mehr oder weniger vollständigen und gut funktionierenden Persönlichkeit. Dieser Mensch sieht nur die Realität der Persönlichkeit und wir haben die Wahrheit dieser Realität gesehen, was die Persönlichkeit in Wahrheit ist: daß sie nicht das Sein ist, sondern ein Ersatz, der Wahrheit vortäuscht.
Der wichtigste und tragischste Aspekt dieses Verlustes von Realität ist der Verlust dessen, was einen vollständigen Menschen ausmacht, einen Menschen, der sein menschliches Element nicht verloren hat, seine Essenz. In einer sehr realen Bedeutung ist ein Mensch, der nicht mit seiner Essenz verbunden ist, kein Mensch: weil das, was den Menschen zum Menschen macht, die Essenz ist. Er ist immer noch ein Potential, ein Mensch im Zustand des Samens. Deshalb sagten manche der Alten, daß nur die Weisen menschlich sind, das heißt die, die fähig sind, Essenz zu erkennen und zu sein. El-Ghazali, ein Sufi des elften Jahrhunderts, sagt es so: "Weisheit ist so wichtig, daß man sagen kann, die Menschheit besteht nur aus Weisen."
Der Zustand der meisten Menschen ist sogar noch tragischer als das. Nicht nur, daß der Mensch sein Menschsein verloren, hat, er hat buchstäblich seine Existenz verloren. Ein Mensch, der nicht sein Sein ist, der nicht Essenz ist, existiert nicht wirklich. Er ist nicht mit Existenz in Kontakt, weil Existenz, wie wir gesehen haben, der tiefste Aspekt und das tiefste Charakteristikum von Essenz ist.
Die Erfahrung eines solchen Menschen, ob normal oder pathologisch, ist die Erfahrung der Persönlichkeit. Wie wir gesehen haben, ist die tiefste Natur der Persönlichkeit ein Mangel, ein Loch, ein Fehlen, eine Nichtexistenz. Wir können El-Ghazalis Aussage also hinzufügen: nicht nur ist es wahr, daß die Menschheit eigentlich nur aus den Weisen besteht, sondern im wahren Sinn existieren auch nur die Weisen.
------------------
An dieser Stelle kann ich es mir nicht verkneifen, noch Eins vom C.C. draufzusetzten:
»Aber
wenn er so wirklich ist, wie ich .....«
»So wirklich wie du?« unterbrachen mich Don Juan und Don Genaro wie aus einem Mund. Sie schauten einander an und lachten, bis ich meinte, sie müßten sich gleich übergeben.