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von Sonntagskind
Fromm über die "Liebe zu Gott"
Wir haben bereits festgestellt, dass unser Bedürfnis nach Liebe auf unsere Erfahrung des Getrenntseins und auf das daraus resultierende Verlangen zurück zu führen ist, die aus der Getrenntheit entspringende Angst durch die Erfahrung von Einheit zu überwinden. Die als Gottesliebe bezeichnete religiöse Form der Liebe ist psychologisch gesehen nichts anderes. Sie entspringt dem Bedürfnis, das Getrenntsein zu überwinden und Einheit zu erlangen.
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Die Entwicklung der menschlichen Rasse kann man nach allem, was wir darüber wissen, als die Loslösung des Menschen von der Natur, von der Mutter, von der Bindung an Blut und Boden charakterisieren. Am Anfang seiner Geschichte sieht sich der Mensch zwar aus seiner ursprünglichen Einheit mit der Natur ausgestoßen, doch hält er noch weiter an den ursprünglichen Bindungen fest. Er findet seine Sicherheit, indem er wieder zurückgeht oder diese ursprünglichen Bindungen beibehält. Noch immer identifiziert er sich mit der Welt der Tiere und Bäume, und er versucht dadurch, zur Einheit zu gelangen, dass er eins bleibt mit der Welt der Natur. Von dieser Entwicklungsstufe zeugen viele primitive Religionen. Da wird ein Tier zu einem Totem, man trägt bei besonders feierlichen religiösen Handlungen oder auch im Krieg Tiermasken; man verehrt ein Tier als Gott.
Auf einer späteren Entwicklungsstufe, wenn der Mensch sich handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten erworben hat und nicht mehr ausschließlich auf die Gaben der Natur - die Früchte, die er findet und die Tiere, die er jagt - angewiesen ist, verwandelt er das Erzeugnis seiner eigenen Hände in einen Gott. Es ist das Stadium der Verehrung von Götzen aus Lehm, Silber oder Gold. Der Mensch projiziert dabei seine eigenen Kräfte und Fertigkeiten in die Dinge, die er macht, und betet so auf entfremdete Weise sein eigenes Können, seinen eigenen Besitz an.
Auf einer noch späteren Stufe verleiht der Mensch seinen Göttern menschliche Gestalt. Offenbar ist er dazu erst imstande, nachdem er sich seiner selbst stärker bewusst geworden ist und den Menschen als das höchste und ehrwürdigste "Ding" auf der Welt entdeckt hat. In dieser Phase der anthropomorphen Gotteverehrung verläuft die Entwicklung in zwei Dimensionen. Im einen Fall ist die weibliche oder männliche Natur der Götter ausschlaggebend; im anderen Fall hängt die Art der Götter und die Art, wie sie geliebt und verehrt werden, vom Grad der Reife ab, den die Menschen erreicht haben.
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Wenn man die sich entfaltende Idee des Monotheismus weiterverfolgt, so kann man nur zu dem Schluss kommen, Gottes Namen überhaupt nicht mehr zu erwähnen und überhaupt nicht mehr über Gott zu sprechen. Dann wird Gott zu dem, was er potentiell in der monotheistischen Theologie ist, das namenlose Eine, ein nicht in Worte zu fassendes Gestammel, das sich auf die der Erscheinungswelt zugrunde liegende Einheit, auf den Grund allen Daseins bezieht. Gott wird Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Gott, das bin ich, sofern ich menschlich bin.
Natürlich bewirkt diese Entwicklung von anthropomorphen zu einem rein monotheistischen Prinzip große Unterschiede in der Art der Gottesliebe.
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Ganz offensichtlich haben die meisten Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung dieses infantile Stadium noch nicht überwunden, so dass für die meisten der Glaube an Gott gleichbedeutend ist mit dem Glauben an einen helfenden Vater - eine kindliche Illusion. Wenn auch einige der großen Lehrer der Menschheit und eine Minderheit unter den Menschen diese Religionsauffassung überwunden haben, so ist sie doch noch immer die dominierende Form von Religion.
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Alle theistischen Systeme, slebst die nicht-theologischen, mystischen Systeme, postulieren eine spirituellen, den Menschen transzendierenden, jenseitigen Bereich, der den spirituellen Kräften des Menschen und seinem Verlangen nach Erlösung und nach einem inneren Neugeborenwerden Bedeutung und Geltung verleiht. In einem nicht-theistischen System gibt es einen solchen spirituellen, jenseits des Menschen existierenden oder ihn transzendierenden Bereich nicht. Der Bereich der Liebe, vernunft und Gerechtigkeit existiert als Realität nur deshalb und insofern, als der Mensch es vermochte, während des gesamten Evolutionsprozesses diese Kräfte in sich zu entwickeln. Nach dieser Auffassung besitzt das Leben keinen Sinn außer dem, den der Mensch ihm gibt; die Menschen sind völlig allein und können ihre Einsamkeit nur überwinden, indem sie einander helfen.
Im Zusammenhang mit Gott möchte ich klarstellen, dass meine Auffassung keine theistische ist. Ich halte die Gottesvorstellung für eine historisch bedingte und bin der Ansicht, dass der Mensch in einer bestimmten historischen Periode die Erfahrung der eigenen höheren Kräfte, seine Sehnsucht nach Wahrheit und Einheit darin zum Ausdruck gebracht hat. Aber ich meine andererseits, dass die aus einem strengen Monotheismus zu ziehenden Konsequenzen und die, welche sich aus einem nicht-theistischen "unbedingten Interesse" an der spirituellen Wirklichkeit ergeben, zwar verschieden sind, aber sich deshalb nicht unbedingt ausschließen müssen.
Erich Fromm - Die Kunst des Liebens, S. 75-85
Hervorhebungen durch den Autor
~~ courage ~ compassion ~ connection ~~
~~ ~~ ~~ ~~ vulnerability ~~ ~~ ~~ ~~
~~ ~~ ~~ ~~ Γνῶθι σεαυτόν ~~ ~~ ~~ ~~