Liebe und Konzeptlosigkeit
Verfasst: 20. Oktober 2012, 00:43
Dies ist ein Auszug aus dem Buch "Ins Herz der Dinge lauschen" von Samuel Widmer. Ich poste diesen Auszug unter Trip, da das Protokolle nach psycholytischen Sitzungen sind.
Mir gefällt der Text sehr und er deckt sich recht gut mit eigenen Erkenntnissen aus meinen "psycholytischen Sitzungen".
Mir gefällt der Text sehr und er deckt sich recht gut mit eigenen Erkenntnissen aus meinen "psycholytischen Sitzungen".
Vorbehaltlos das zu sehen, was ist, in mir selbst, in meinen Beziehungen,
in der Welt, ohne es gutzuheissen, ohne es zu bekämpfen, einfach hinschauen
zu lernen, scheint mir eine ausserordentlich wichtige Sache. Sich mit dem
Unausweichlichen illusionslos zu konfrontieren, hat nicht nur eine beängsti-
gende, sondern auch eine ganz ausserordentliche Qualität. Erklärungen führen
immer nur weg von den Fakten; das Denken ist nie in der Lage, das Ganze zu
begreifen. Um das Ganze zu begreifen, muss das Denken vor dem Ganzen
schweigen lernen.
Wenn ich nicht jetzt damit beginne, werde ich es nie tun, auch wenn ich
behaupte, dass ich mir nur zuerst bessere Voraussetzungen schaffen will.
In den Beziehungen heisst das, ohne Widerstand zu akzeptieren, was wir
wirklich füreinander sind und sein können, dies überhaupt erst richtig heraus-
zufinden, und es dann in einem unaufhörlichen Prozess zu leben. Dass wir
auch "nichts" füreinander sein könnten, muss ebenfalls als Möglichkeit einge-
schlossen sein. Vorbehaltlos mit dem zu leben, “was ist”, ist Liebe. In der Liebe
gibt es weder Macht noch Ohnmacht, es gibt nur Lernsituationen und ein le-
bendiges Wachsen, das sich immer neu darbietet und dem man nur achtsam
und selbstverantwortlich begegnen kann. Zu lieben heisst vor allem auch, den
andern völlig frei zu lassen, ihn anzunehmen und nicht einzufangen in Er-
wartungen und Projektionen. Zu lieben heisst, ganz zu sein, im Ganzen aufzu-
gehen. Das Ganze zu sein, heisst ganz handeln zu können, ganz JA und ganz
NEIN sagen zu können. Ganze Beziehungen kann nur ein ganzer Mensch ein-
gehen, darum kommt zuerst das Ganzwerden, und darum ist auch das Halbe
gut, weil darin der Weg zum Ganzen verborgen liegt.
Ganz sein heisst nicht immer dasselbe, es gibt verschiedene Integra-
tionsebenen. jeder muss zu einer anderen Zeit anderswo ganz werden. Die
Angst vor dem letztlichen Ausgeliefertsein, die wir immer wieder in uns abzu-
wehren geneigt sind, ist die Angst vor der Liebe. Da ist dieses innere Fest-
klammern, diese Kontrolle, die auch wieder psychosomatische Erschei-
nungen verursacht, ein Festklammern an Vorstellungen, Konzepten über sich
selbst, über Beziehungen, über das Leben und so weiter. Immer geht es dabei um
richtig oder falsch, ob ich so oder anders sein soll.
Dieses Festklammern wird oft nach aussen projiziert, was dann zum
Festklammern in Beziehungen führt und damit zu Abhängigkeit von den Mei-
nungen anderer, von Personen oder von Organisationen und ähnlichem. All
das gibt Sicherheit; Sicherheit, nicht in der Verwirrung verloren zu sein; Si-
cherheit, zu wissen wie es ist. Dies führt dann oft zu Rechthaberei, zum Streit
um Meinungen, zur aggressiven Verteidigung, sobald ich bedroht bin vom
Durchbruch des Chaos.
Es ist, wie wenn ein inneres Kind spürbar wäre, verängstigt ob all der
Meinungen und Ansichten, denen es ausgesetzt war; die ihm mitteilten und
von ihm forderten, wie es zu sein habe, bis es nicht mehr fühlte, wie es tat-
sächlich ist, und es sich nur noch verängstigt duckte und verzweifelt nach je-
mandem Ausschau hielt, der ihm verbindlich sagen könnte, wer es sei, wie es
sein solle und sofort. Gleichzeitig ist dies aber nicht akzeptabel, was dazu führt,
dass wir uns immer wieder auflehnen, den hassen, von dem wir abhängig sind,
Befreiungsaktionen starten, die einen dann noch mehr ins Chaos stürzen.
Was wirklich zu tun ist: die Angst, das verdrängte Kind genau beo-
bachten, dann das Chaos dahinter genau betrachten, ohne irgend ein Konzept,
wie es sein sollte, einfach hinschauen. Dann ist das Chaos gar kein Chaos, das
Chaos entsteht nämlich dadurch, dass ich Angst bekomme und aus der Panik
heraus zu handeln (kopflos herumzuschiessen) beginne. Wenn ich das Chaos
einfach betrachte, erkenne ich schliesslich angtstlos den unstrukturierten Lebens-
strom, der durch mich fliesst, der nie gefasst werden kann, nie in eine Vorstel-
lung oder ein Konzept gefasst werden kann.
Ich erkenne dann, dass ich mich selbst oder einen anderen oder das
Leben als Ganzes nie richtig erfassen, wissen kann, dass ich das im Gegenteil
aufgeben muss, um frei zu werden, wirklich und ungehindert beobachten zu
können. Nur von Moment zu Moment kann ich verstehen, was in mir oder ei-
nem andern vorgeht oder was das Leben eigentlich ist. Sobald ich ein Konzept
daraus mache, entsteht Zwang, der dem Leben aufgestülpt ist und es damit an
der weiteren Entfaltung hindert.
Nicht zu wissen, sondern neugierig zu schauen, ist die Haltung, in der
ich wirklich zu verstehen beginne, und von dieser Haltung darf ich nicht ab-
weichen. Alle Aussagen über mich sind daher nichtig, wer immer sie gemacht
hat. Sobald jemand behauptet, er wisse, wie der Mensch eigentlich sei, wie ich
sei, wie das Leben sei oder gehandhabt werden müsse, hat er sicher unrecht und
zeigt an, dass er aus Angst ein Konzept aufstellt, dass er aus dem Bedürfnis
nach Sicherheit, andere seinem Konzept zu unterwerfen versucht (so entstehen
Kirchen, Parteien, Staatswesen, Schulen).
Wer wirklich “weiss ”‚ wird mit mir zusammen etwas betrachten und
keine Behauptungen aufstellen wollen, was eine Form von Gewalttätigkeit ist.
Es lassen sich über das “Wie wir sind", “Wie wir sein sollen”, “Wie wir leben
sollen” keine definitiven Aussagen machen, nie! Wir können lediglich von Mo-
ment zu Moment begreifen lernen, uns öffnen dafür, wie sich das Leben ent-
falten möchte in uns und ihm die Führung überlassen. Probleme entstehen
nicht, weil sich das Leben ergiesst, wohin es immer will, sondern weil wir uns in
irgendeiner Form dagegen stemmen. Im Erkennen dieses Prozesses löst sich alle
Abhängigkeit, alle Sucht auf; man wird Eins. Die hohle Leere, das Nichts, dem
man immer beispielsweise durch Beziehungen zu entfliehen suchte, wandelt sich
in die erfüllte, ekstatische Leere.
Dem Leben, sich selbst, allem zugewandt sein, ist die Lösung aller Prob-
leme. Offen sein‚ sensitiv sein, aufmerksam sein, auf jede Spur von Vergewal-
tigungstendenz dem Leben gegenüber achten, das ist wirklich die Lösung. Nicht
eine Lösung für die nächsten 50 oder 1000 Jahre, eine Lösung von Moment zu
Moment. Sicherheit gibt es keine, braucht es aber auch keine, wenn man dem
Leben vertraut. Das Bedürfnis nach Sicherung nimmt hier auch sein Ende.
Dieses Grundübel des Menschseins hört einfach auf, weil erkannt ist, dass die
einzige und grösstmögliche Sicherheit tatsächlich im Akzeptieren der Unsi-
cherheit, des Wandels liegt.
Probleme (psychologische) können nicht wirklich gelöst werden. Sie lösen
sich ganz von selbst in diesem Prozess des loslassens, nicht dadurch, dass sie
gelöst werden, sondern dadurch, dass sie als Probleme verschwinden, weil er-
kannt wird, dass sie keine mehr sind, wenn ich den Problemmacher fahren
lasse.
Das Ausgeliefertsein ganz anzunehmen, erscheint am Anfang als etwas
Schreckliches, mit der Zeit verliert es aber diesen Charakter. Dann lebt man in
dieser entsetzlichen Welt mit dem unschuldigen Geist eines Säuglings. Oft hat
man sie zu ertragen in ihrer Rauchigkeit, Lärmigkeit, Gewalttätigkeit, aber oft
kann man der Welt der Menschen auch entfliehen und sich getragen fühlen
vom Lebensstrom, dem man in der Natur, abseits von den Menschen, im Allein-
sein begegnet. Die Unermesslichkeit des Lebens kann sich dann einem öffnen.
Die Sehnsucht nach Ganzheit, nach einer heilen, ganzen Welt ist ein
eigenartiges Ding. Einerseits ist sie eine Sucht: wenn man ihr nachgibt, sie
befriedigt, verschwindet sie, und man endet in der gesättigten Mittelmässigkeit
und in der Frustration. Wenn man sie hingegen stehen lassen kann, verzehrt
sie einen, wird zu einer läuternden Flamme, die das Herz aufreisst und weit-
macht den goldenen Überfluss der Liebe und des Lebens, der dann völlig
selbstgenügsam in einem zu fliessen beginnt, überfliesst zu den andern und sich
mitteilt und schenkt.
Einsamkeit des Herzens ist ein wunderbares Gefühl, wenn man sich ihm
ganz öffnen kann. Es hat grosse Schönheit und Tiefe und tut in einem eine un-
geheuerliche Weite auf. Das Faktum meiner Einsamkeit zu erkennen, zu sehen,
dass ich die andern wirklich nötig habe, öffnet mich für Freundschaft, welche
für mich ein Gefühl inniger Verbundenheit in völliger Freiheit beinhaltet.
Sucht resultiert aus der Blockade, Einsamkeit einerseits nicht ertragen
und andererseits nicht teilen zu können, das heisst aus dem Konflikt, der aus
dem gleichzeitigen Bestehen von Sehnsucht nach und Angst vor Nähe entsteht.
Ein Konflikt, der ungelöst zu innerer Isolation führt.
Es liesse sich noch viel sagen, wohl vor allem, weil es sich nie ganz sagen
lässt. Zum Beispiel über die frühe Morgenstunde am Teich, dessen trübes Was-
ser das ganze Leben zu halten schien, über das satte Grün der neuerwachten
alten Bäume oder über den nimmermüden Gesang der Amsel in der Tanne hin-
ter dem Haus.
In einem anderen eigenen Protokoll finde ich Einsichten zur
Stille, die ich hier einfügen will:
Ich verlor alle Worte und Gedanken. Alles schien still zu stehen, ich
wurde vollkommen leer, reine Beobachtung, war zusammen mit dem, was ist.
Im Unterschied zu den beiden letzten Sitzungen löste das, was ich beobachtete,
aber keine tragischen Gefühle mehr aus, sondern nichts. Es war einfach da, der
innerliche Kommentator schwieg vollkommen. In diesem Zustand verblieb ich
recht lange, keine Bilder, nichts, völlig unspektakulär, eine fast unmerkliche
Wirkung. Die innere Leere war gleichzeitig eine Fülle, in der alles enthalten
war, ein Gefühl völligen Einsseins, in dem ich mich komplett auflöste. Nur
noch das andere war. Zwischendurch stiegen von tief unten wie in Wallungen
Einsichten auf, die sich aber weniger gedanklich als irgendwie direkt im Be-
wusstsein ausdrückten, wie ein direktes Sehen: "Das Alte muss ganz aufhören,
dass das Neue sein kann. Alle alten Muster müssen völlig absterben, damit
etwas Neues entstehen kann. Tod ist Leben, ist Liebe. Ganz bei sich selbst sein
ist identisch mit ganz bei den anderen sein. In der völligen Hingabe an das
andere verschwinde ich ganz. Ohne diese Bereitschaft, die Bereitschaft zu teilen,
sich mitzuteilen und Anteil zu nehmen, kann keine Gemeinschaft entstehen, die
Liebe, Konfliktlosigkeit und Harmonie beinhalten könnte."
In diesem Zustand lag ich während des grössten Teils der Zeit an
meinem Platz, körperlich völlig reglos, mit grossem Wohlbefinden. Zeitweise be-
kam ich Besuch, hielt eine Hand, wechselte ein paar Worte; aber all das war ne-
bensächlich, die eigentliche Kommunion erfolgte von Herz zu Herz. Mit dem
Herzen war ich bei den anderen, ebenso wie bei mir selbst.
Und wiederum aus einem Protokoll; ein paar Gedanken zum
Wahnsinn in der Welt:
Ich sehe in der Welt zwei grundsätzlich verschiedene Visionen:
a) Es gibt eine Welt, ein Leben, einen Seins-Zustand, in dem folgende Ge-
setze gelten:
Ich bin da als abgegrenztes Objekt und lebe mit den anderen abge-
grenzten Objekten. ICH bin, ICH muss mein Leben machen, ICH muss alles im
Griff haben und so weiter. Unser Zusammensein wird geprägt von Angst,
Feindschaft und ähnlichem.
Vielleicht entspricht diese Vision der Wahrheit, vielleicht ist sie ein
Wahn. Jedenfalls: Wenn ich die Welt so sehe, ist sie so, und ich unterliege den
Gesetzmässigkeiten, die diese Sichtweise nach sich zieht.
b) Es gibt auch eine Welt, ein Leben, einen Seins-Zustand, in dem andere
Gesetze gelten, holistische Gesetze:
Ich bin das Ganze, jeder ist das Ganze, es gibt keine Grenzen. ES ist, ich
und du sind aufgehoben darin, Dualität hört auf, es gibt keine Trennung
zwischen Beobachter und Beobachtetem, es geht alles von selbst, es geschehen
Wunder, das Leben ist ein magisches Wunder, das sich nicht fassen, nicht er-
klären, nicht verstehen und festhalten lässt. Liebe, Friede und Freude bestim-
men unser Zusammenleben.
Vielleicht entspricht diese Vision der Wahrheit, vielleicht ist sie ein
Wahn. Jedenfalls gelten für mich diese Gesetzmässigkeiten, wenn ich die Welt so
sehe. Vielleicht ist beides wahnhaft, und die Frage ist, für welchen Wahn ich
mich entscheiden will, den Sicherheitswahn oder den Liebeswahn. Den, für den
ich mich entscheide, habe ich dann eben!
Vielleicht gilt beides, hat beides seinen Platz: Das Enge, Kleine, das Ich
hat seinen Raum, wo es fähig sein, herrschen und wirken kann und das Weite,
Unermessliche entfaltet sich dort, wo das Denken zurücksteht und schweigt.
Vielleicht ist unsere Krankheit, dass das Kleine den ganzen Raum
einnehmen will und den kleinen Raum, wo es tatsächlich wirken sollte, dafür
vernachlässigt; oder unsere Symptome sind Ausdruck davon, dass das Grössere
in unser Leben drängen möchte und dass das Kleine sich widersetzt.