
Sie schloss die Augen. Etwas Großes, das einen Kreis schloss ... etwas Gewaltiges zog vorüber, fegte über den See, den Wald ... und berührte rings um sie herum alles, was lebte.
Berührte sie selbst.
Kaye fuhr zusammen, als sei jemand durch eine dünne Holzwand gekracht. Ihre Schultern hoben sich, die Finger spannten sich. "Hallo?«, flüsterte sie.
Sie sah nichts, hörte nichts.
"Meine Güte«, sagte sie laut und kam sich sofort wie ein Idiot vor. Sie überlegte, woher diese andere Stimme gekommen sein mochte - obwohl ja niemand gesprochen hatte -, suchte den See danach ab und blickte zum Schilf im Flachwasser hinüber. Dort war nichts. Stille senkte sich über den See, es war nicht einmal mehr ein Luftzug zu spüren. Alles schwieg, Kaye konnte nur noch ihr eigenes Herz schlagen hören.
Irgendetwas hatte sie berührt, nicht ihre Haut, sondern tiefere Schichten. Anfangs war da nur die Empfindung gewesen, daß sie nicht allein war. Auf diesen Holzplanken, auf denen sie einsam und mit bloßen Füßen saß, teilte sie sich jetzt den Raum mit einem Wesen, das genauso real war wie sie selbst - mit einem Wesen, das ihr willkommen und seltsam vertraut war, wie ein geliebter Freund.
Sie spürte, wie Jahre der Last von ihr abglitten. Einen Moment lang tauchte sie in die Empfindung unendlicher Gnade ein.
Hier fällt niemand ein Urteil über dich. Hier bestraft dich niemand.
Kaye zitterte und befeuchtete die Lippen mit ihrer Zunge. Es kam ihr so vor, als tropfe silbernes Wasser durch ihren Kopf. Das Tröpfeln wurde stärker, wurde zu einem Rinnsal, dann zu einem Bach, der ihr vom Nacken bis in die Brust drang. Das Wasser war elektrisierend kühl und rein, wirkte so, als spüle man die drückende Schwüle eines Sommertages in einer unterirdischen Quelle von sich ab. Aber diese Quelle sprach zu ihr, wenn auch ohne Worte. Und sie verbreitete einen eigenartigen Wohlgeruch, als wolle eine Blume sie ganz umschließen.
Die Quelle war voller Leben. Kaye wurde das Gefühl nicht los, daß sie seit jeher von dieser Quelle gewusst hatte. Es kam ihr so vor, als fügten sich einzelne Moleküle endlich zu einem großen Ganzen zusammen - obwohl es das auch nicht ganz traf. Diese Quelle war nichts Biologisches. Etwas aus einer anderen Welt.
Ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen.
Wer ist da?«, fragte sie wieder und wieder, als müsse sie zwanghaft ein Ritual vollziehen.
Sie kannte die Antwort.
Der Besucher, derjenige, der sie rief hatte keine spezifischen Züge, besaß weder Gesicht noch Gestalt. Und dennoch war das Bad in dieser kühlen, wunderbaren Quelle so tröstend, als habe sie all ihre Vorfahren, alle weisen, liebevollen, großartigen, mächtigen Familienmitglieder, denen sie nie begegnet war, gleichzeitig um sich versammelt. Als schenkten sie ihr all die bedingungslose Liebe und Akzepranz, die sie dem Kind Kaye mit ihren schützenden Armen gegeben hätten, wäre dazu Gelegenheit gewesen. All das vermittelte die Quelle – und noch mehr.
Denn der Rufer, der sie so sanft und gleichzeitig so eindringlich ansprach, war, anders als ihre Lieben, nicht aus Fleisch und Blut.
Mit dem Wohlgefühl kam die Angst, die Verbindung zur Realität zur verlieren. Der Rufer war ihr vertraut, dennoch harte sie ihn lange verleugnet und war ihm ausgewichen. Aber er zeigte weder Zorn noch Unmut. Nur bedingungslose Zuneigung.
Aber war da nicht auch gespannte Erwartung? In seinem Verlangen, sie anzurühren und sich ihr zu offenbaren, verstieß der Rufer gegen alle Regeln, ging jedes Risiko ein. Daß auch er Sehnsucht kannte, bezauberte Kaye.
Plötzlich machte Kaye den Mund auf, um ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Komisch, daß ihr Atem einen Augenblick gestockt harte. Komisch, aber überhaupt nicht erschreckend. Eher so, als erlaube sich jemand einen kleinen Scherz mit ihr. »Hallo«, sagte sie beim Ausatmen, ließ die Schultern hängen, entspannte sich, schob die Zweifel beiseite und gab ihren Empfindungen nach. Ihr war zwar klar, daß sie nicht auf immer und ewig anhalten würden, aber sie hätte es sich gewünscht. Es würde wehtun, sich wieder so zu fühlen wie noch vor wenigen Minuten. Und in dem Leben davor.
Allerdings wusste sie, daß dieser Schmerz notwendig war. Sie war noch nicht fertig mit der Welt. Und der Rufer wollte ihr die Freiheit zu eigenen Entscheidungen geben. Er hatte nicht vor, sich einzumischen und sie von sich abhängig zu machen.
Kaye genoss den Anblick des Waldes in diesen frühen Morgenstunden. Sie hoffte und wünschte sich, daß diese Schönheit, dieser Friede nie vergehen, sie jetzt und immer umgeben würden.
Jenseits der Bäume zog im Osten die Morgendämmerung herauf, es sah aus, als schimmere grauer Samt im Kerzenlicht.
Wie lange war es her, daß sie zur Anlegestelle zurückgekehrt war?
Ohne Worte hatte die Quelle Stunde um Stunde ihre Seele geläutert – ein Wort, das sie nicht mochte, aber es war ihr spontan in den Sinn gekommen –, hatte sie reingewaschen, längst verdrängte Gedanken und Erinnerungen freigespült, sich mit ihr vertraut gemacht. In der realen, menschlichen Zeit. Wo immer diese Quelle hinströmte, war ihr Impuls reine Freude.
Einen solchen Augenblick, eine solche Begegnung hatte sie sich nicht einmal im Traum vorgestellt. Höchstens als Mädchen hatte sie sich einmal gefragt, wie eine solche spirituelle Erfahrung aussehen mochte. Und stets hatte sie sich vorgestellt, es sei eine Sache von Schuld und Sühne, eine Abrechnung mit Blitz und Donnerhall. Ein Augenblick hilfloser Selbsttäuschung, als Rechtfertigung für Jahre der Ignoranz und Ungläubigkeit. Nie härte sie mit etwas so Unspektakulärem gerechnet. Und ganz bestimmt nicht mit diesem heftigen, aber fröhlichen Aufwallen freundschaftlicher Gefühle.
C.C. hat geschrieben:Ganz unvermittelt sagte er: »Ich werde dir eine Geschichte erzählen - über den Nagual Elias und die Offenbarung des Geistes.
Der Geist offenbart sich einem Zauberer, besonders einem Nagual, an jeder Straßenecke. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß der Geist sich jedermann mit der gleichen Intensität und Konsequenz offenbart; aber nur Zauberer, und vor allem Naguals, sind auf solche Offenbarungen vorbereitet.«